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 Jan-Hinnerk: Innenansichten


 

 

Vorwort:

Es gibt immer einen Weg! Dieses Motto begleitet mich bereits mein gesamtes Leben. Es trifft für mich zu und bestärkt mich bei Allem was auch immer vor mir liegen mag. Ich begebe mich gerade auf einen Weg der für mich neu und zum Teil auch beängstigend ist und der mich an einige mir bis jetzt bekannte oder auch unbekannte Grenzen bringen wird. Um sich auf eine Reise zu begeben braucht man nicht in ferne Länder zu reisen, es reicht manchmal aus, sich in sich selbst zu begeben und die Sehenswürdigkeiten in sich selbst zu entdecken.


Das Jahr brachte viele Veränderungen für mich und vieles auf das ich mein Leben gebaut habe, scheint zu versinken. Ich versuche mich festzuhalten und falle, aber heimlich still und leise haben aber meine Freunde und Familie ein Netz geknüpft und haben mich aufgefangen...

Im Frühjahr haben meine Frau und ich uns nach 16 Jahren gemeinsamer Partnerschaft getrennt. Wir sind gut miteinander und haben unsere Beziehung zueinander auf eine neue Basis gestellt. Wir leben nicht mehr als Liebespaar, sondern gehen unseren Weg als Freunde weiter. 

Ich lebe jetzt mit meinem besten Freund in einem Haus und habe dort eine kleine singlewohnung in einem beschaulichen Kurort.

Diese Beschreibung dieser sicherlich gravierendsten Veränderung ist vielleicht für das was in den kommenden Tagen hier zu Papier kommt von Bedeutung.

Mitte September begann mein online-Studiengang zur sozialen Arbeit in Kassel. Wieder einmal die Möglichkeit haben über den Tellerrand zu schauen, neue Ansätze kennenzulernen und seine Arbeit der letzten Jahre zu reflektieren. Eine große Herausforderung wartet auf mich.

Aber jetzt ist gerade alles anders und es soll wohl noch eine viel größere Herausforderung auf mich warten... 


 

 

22.09.2010

Ich fühle mich gesundheitlich nicht gut. Ein Ziehen im rechten Hoden verheißt nichts Gutes und ich habe Angst. Ich sitze bei meinem Hausarzt im Wartezimmer und warte darauf, in das Sprechzimmer zu treten. Und schnell sind da die Erinnerungen an den 22.09.(!)1999 in der ich in genau der gleichen Situation steckte und ein Hodentumor diagnostiziert wurde und OP´s, Chemotherapie und unzählige Untersuchungen folgten.

Ich werde ins Sprechzimmer gerufen... "Sie haben einen Tumor. Ich empfehle sofort im Krankenhaus vorstellig zu werden." Kurz und knapp formuliert ist alles was ich eigentlich an Plänen für die nähere Zukunft hatte in den Hintergrund getreten.

Im Krankenhaus bestätigen die weiteren Untersuchungen nun die Diagnose. Morgen früh muss ich um 7.00 Uhr dort sein und werde operiert.

Meine Eltern haben heute Hochzeitstag und ich muss wie 1999 auch meine Eltern an diesen Tag anrufen und wieder wird dies kein reines "Glückwunsch"-Gespräch. Meine Eltern müssten dieses Datum eigentlich so langsam verfluchen.

Ich bin am Abend Gott sei Dank sehr beschäftigt damit Termine abzusagen und Freunde, Familie und Arbeitskollegen zu informieren und verschiedene Arbeiten zu delegieren. Und dennoch mischt sich in jedes Telefonat dieses beißende Gefühl der Angst...


 

 

23.09.2010

7.15 Uhr. Ich liege nun also im Krankenhaus bereits ins OP-Hemdchen gekleidet und auf dem Nachtschrank steht ein kleiner Becher mit Beruhigunspille, die ich jetzt vor der OP einnehmen muss. Ich habe keine Angst vor der OP, davon hatte ich in meinem Leben schon einige mehr, viel mehr Angst habe ich davor, was danach kommen wird...

...die Räder meines Bettes rumpeln über der Schwelle in den OP-Saal. Das Licht scheint hell und blaue Fliesen kleiden den Raum in eine Art Schwimmbaddesign. "So, Herr Scholljegerdes. Machen Sie sich keine Sorgen, Sie sind hier in guten Händen!" Ich fühle die Nadel in meinem Arm und ein leicht kribbelndes, kaltes Gefühl, bevor es um mich herum langsam dunkler wird...

...das erste was ich danach wahrnehme, ist eine große Uhr, die 11.35 Uhr zeigt. Ich habe Durst, darf aber noch nicht trinken. Die Narkose hat eine wohlige Entspannung hinterlassen. 

Im Laufe des Nachmittags werde ich zurück auf die Station geschoben und liege nun in meinem Zimmer und schaue an die Decke. Ich darf schon wieder trinken aber essen noch nicht. Ein heimlich zuvor verstecktes Stück Schokolade tut gut.


Ein Hoden wurde entfernt, der linke biopsiert. Dass dieser noch da ist, werte ich als gutes Zeichen! Einen Arzt, der mir erklärt hätte was die Operation ergeben hat, habe ich noch nicht gesehen. Ich bin mit meinen Gedanken auf mich allein gestellt und sie kreisen stetig in meinem Kopf umher.

Was ist, wenn weitere Metastasen gerade Besitz von meinem Körper ergreifen?

Folgen jetzt, wie 1999 auch, unzählige unangenehme Untersuchungen und eine mehrmonatige Chemotherapie, die mich an die Grenze meiner Belastbarkeit bringt?

Wird diese zweite Krebserkrankung mein Ende bedeuten?

Ich bin heute Dank der Nachwirkungen der Narkose noch ziemlich schläfrig und das Denken fällt immer wieder dem Schlaf zu Opfer.


 

 

24.09.2010

Nach einer unruhigen Nacht mit zwei schnarchenden Zimmernachbarn und diversen bohrenden Gedanken warte ich auf die Visite um erste Informationen direkt vom Arzt zu bekommen. Irgendwann öffnet sich die Tür und eine Schar von Ärzten und Schwestern und Pflegern versammelt sich um mein Bett. 

Die OP sei gut verlaufen aber es müssen jetzt die Ergebnisse des Pathologen abgewartet werden. Der Schnellschnitt während der OP hat aber definitiv einen bösartigen Tumor ergeben. Welcher Art genau wird die Untersuchung des Gewebes bis kommender Woche zeigen.

Morgen soll eine Computertomographie durchgeführt werden, die ein Bild geben soll davon, ob weitere Metastasen in meinem Köper zu finden sind.


Schleichende Grenze zwischen Leben und Tod. Unverrückbar überwunden, oder vorher Halt gemacht ?

Hab` gerade kapiert, was zu leben es heißt, wie man sich selbst und das Leben genießt.

Warten – warten auf das Grenzübertrittsergebnis. Warten – eine lange Zeit; gepaart mit kreisenden Gedanken.

Viel zu wenig gelebt, viel zu wenig geliebt. Gelebt für die Arbeit und die finanzielle Sicherheit.

Die Welt gewonnen, sich selbst verloren, erntet man jetzt die Früchte seiner eigenen Saat.

Es wird sichtbar, welchen Raubbau an sich selbst man betreibt, seine eigenen körperlichen Grenzen werden aufgezeigt. 

„Du gehst zu weit, kehr wieder um!“ doch was, wenn die Umkehr zu spät kommt ?

Warten – warten auf das Ernteergebnis; Grenze überwunden, oder vorher Halt gemacht ?

Fragen quälen mich, zeigen mir wie menschlich ich bin. Hab ich doch vorher als Maschine funktioniert. Wo Probleme es gab, war ich zur Stelle, eilte jedem anderen zu Hilfe, ließ mich dabei selber fallen.

Meiner Liebe zeigte ich meine Liebe kaum. „Habe keine Zeit!“ – ein viel zu oft gesagter Satz.

Verzeiht mir bitte – ich wage ein neues Leben! Doch vorher warte ich auf`s Übertrittsergebnis der schleichenden Grenze zwischen Leben und Tod...


 

 

25.09.2010

Wieder eine unruhige Nacht liegt hinter mir. Ich bin müde und brauche Erholung. Mein Kopf raucht, mein Herz schlägt unruhig und mein Magen dreht sich. Ich habe Angst vor der Untersuchung heute.

Ich muss Literweise Kontrastmittel trinken. Mir ist schon übel davon und dennoch ist die Flasche lange nicht leer. Ist mir übel vom Mittel oder eher durch meine Situation? Vielleicht auch beides.


...kreisendes Surren und Brummen um mich herum. Der Raum ist kalt und zusätzliches Kontrastmittel läuft warm durch eine Nadel in meinem Arm. Ich habe metallischen Geschmack davon im Mund und ich habe Kopfschmerzen. Der Computertomograph surrt und brummt aber laut weiter während ich auf einer Liege automatisch immer wieder durch die Röhre geschoben werde. Ich fühle mich isoliert und einsam. Draußen, in der Sicherheit vor den Röntgenstrahlen, sitzen zwei Ärzte und schauen durch eine Scheibe auf mich und immer wieder auf den Bildschirm. Was sie da gerade sehen, welche Gedanken sie sich machen, worüber sie sich gerade unterhalten, weiß ich nicht. 

Mir wird gerade die Ironie bewusst, dass das Kontrastmittel und die Röntgenstrahlen Krebs auslösen können.


Die Maschine läuft langsam aus, die Untersuchung ist beendet. Als die Tür des Untersuchungsraumes hinter mir ins Schloss fällt, bin ich alleine und möchte am Liebsten schreien und weinen, aber auch dazu ist mir zu übel. Ich habe keine Kraft zum Weinen...

Auch jetzt muss ich wieder warten bis zum Abend. Dann liegt zumindestens ein mündlicher Bericht des Radiologen vor.

Am Nachmittag habe ich Besuch von einigen Freunden. Ich bin froh und dankbar darüber. Ich fühle mich aufgefangen. Das Netz meiner Freunde ist von unglaublicher, faszinierender Stärke. Es gehört nicht zu meinen üblichen Wesenszügen mich fallen zu lassen. Ich habe gern alles selbst im Griff. Ich bin immer der Starke gewesen und jetzt lerne ich gerade, dass man auch schwach sein darf. Darin liegt auch Stärke. Sich das einzugestehen, scheint eine der Aufgaben hinter der Krankheit zu sein.

Am Abend kommt der Arzt zu mir ans Bett und teilt mir mit, dass die Aufnahme des CT keine weiteren Metastasen gezeigt hat. Eine wirklich gute Nachricht, die mir ein wenig der Angst nimmt und mich auch etwas beruhigter die Nacht genießen lässt und mir einen weitaus besseren Schlaf schenkt, als die Nächte zuvor.


 

 

26.09.2010

Am Morgen werden die Blutwerte abgenommen. Der Tumormarker soll bestimmt werden. Die Schwester bricht die Blutabnahme nach dem 3. Versuch ab. Meine Adern sind nach der Chemotherapie vor zehn Jahren stark geschädigt und wehren sich gegen die Nadel. Später kommt ein Arzt, dem es gelingt den roten Lebenssaft zu entnehmen. Ein paar Tropfen nur in ein paar Röhrchen sollen also zeigen, wie es genau um mich bestellt ist. Eine eigenartige Ironie, dass sich mein Körper vor der Entnahme dieses Zeugnissen versperrt hat.


Wieder geht die Tür auf und der alltägliche Schwarm der Ärzte kommt in das Patientenzimmer um mit ihrer Visite auch bei uns fortzufahren. Ein Laptop auf dem Arm eines Arztes speichert alle Daten der Patienten. Auf diesem kleinen elektronischen Ding ist also das ersehnte Ergebnis gespeichert. Ein Arzt spricht in nicht entzifferbaren Fachbegriffen und Kürzeln. „Die β-HCG und AFP-Werte sind negativ.“ Ich kenne diese Begriffe noch von meiner letzten Krebserkrankung. Das sind die beiden entscheidenden Tumormarker die also wieder im Normbereich liegen! Wieder eine so gute Nachricht. Der Tumor ist also durch die OP entfernt!

Zu meiner weiteren Freude darf ich heute nach Hause bis zum Mittwoch. Dann soll ich mich beim Urologen und Onkologen vorstellen, die dann nach den abgeschlossenen Befunden des Pathologen weiter beraten werden, ob eine Chemotherapie in den nächsten Wochen und Monaten meinen Alltag bestimmen wird.

Wieder zu Hause laufe ich planlos in meiner Wohnung umher. Ich komme zur Ruhe und diese Ruhe macht mir Angst. Ich denke wieder sehr viel und diese Gedanken lähmen mich trotz aller guter Prognosen und Untersuchungen. Und wieder sind da Freunde, die genau zur richtigen Zeit an meiner Tür klingeln und mich auffangen. Ich bin so dankbar für mein soziales Netzwerk. Ein Begriff den ich eher aus der Computerwelt kenne, jetzt aber für mich wieder persönlich spürbar wird. Dennoch schlafe ich in der Nacht schlecht. Alles ist so still und ruhig hier und ich höre mir tatsächlich selbst beim Denken zu...


 

 

27.09.2010

Heute morgen wache ich gerädert auf. Ich muss aufstehen, habe einen Termin beim Hausarzt zur Wundkontrolle. Ich fahre danach mit meinem Auto ziellos in der Gegend rum. Ein Synonym für meine ziellosen Gedanken der letzten Tage. Ich merke, dass die Trennung von meiner Frau sicherlich richtig für uns war und ist, aber ich in der Situation in der ich mich gerade befinde, eben alleine bin. Alleine nicht im eigentlichen Sinne, denn ich habe ja einen wunderbaren Freundes- und Familienkreis und spüre mich in Allem was ich gerade durchlebe in den festen Hände unseres Herrn, aber ich habe eben keinen festen Partner, der das Ganze mitträgt. 


Am Nachmittag lenke ich mich ein wenig damit ab, aufgelaufene Briefe und emails sowie Anrufe auf dem Anrufbeantworter abzuarbeiten. Mir fällt es aber sehr schwer mich darauf zu konzentrieren. Genauso wie auf die Leseaufgaben meines Studiums. Die Texte sind sehr befrachtet und jeder Satz versucht sich in meinen Verstand zu bohren, aber die Gedanken, die ich mir um meiner Selbst gerade mache, blockieren.

Ich bin müde von den letzten anstrengenden Tagen und schlafe am späten Nachmittag auf dem Sofa ein, bis wieder ein paar Freunde an der Tür klingeln, um nach mir zu sehen. 


 

 

28.09.2010

Ich wache am späten Morgen erstaunt entspannt auf. Ich habe gut geschlafen. Der Körper hat sich geholt, was ihm lange verwehrt blieb. Ruhe und Erholung. Ich habe mir lange keine Ruhe und Erholung gegönnt. Ich habe workoholic-Züge und bin viel in Deutschland und im Ausland unterwegs. Die meiste Zeit im Monat befinde ich mich irgendwo und gehe meiner Arbeit, meiner Berufung nach. Ich liebe meine Arbeit, sie macht Spaß und erfüllt mich. Ich erfahre Akzeptanz und Bestätigung und kann mich darin selbst verwirklichen. Bei alledem habe ich aber zu oft vergessen auf mich selbst und mein Umfeld zu achten. Die Krankheit ist vielleicht der Preis für diesen Raubbau an mir selbst.

Ich nehme mir vor, nach der Genesung (derzeit bin ich bis zum 15. Oktober krank geschrieben und evt. folgt noch eine Rehamaßnahme) einen Großteil meines Jahresurlaubes zu nehmen. Ich will meine Arbeit und mein Leben umstrukturieren. Ich will einige Dinge delegieren oder abgeben um das Gleichgewicht zwischen Arbeit und Privatleben wieder auszutarieren. Ich bin es mir selbst und meinen Freunden und meiner Familie schuldig. Fast im selben Moment fahre ich wieder in der Gefühlsachterbahn zwischen himmelhochjauchzend und zu Tode betrübt und versuche dem Auf und Ab der Gefühle zu folgen. Ich bin unruhig über den Gedanken an morgen. Folgt eine Chemotherapie, die mich körperlich und seelisch an meine Grenzen stoßen lassen wird? Wird mein Tagesablauf der nächsten Monate fremdbestimmt von Willen der Ärzte und Pfleger?


Es ist 3.00 Uhr morgens und eigentlich schon der 29.09.2010 aber an Schlaf ist gerade nicht zu denken. Wieso ereilt mich diese Krankheit ein zweites Mal? Wieso habe ich, obwohl es statistisch nahezu nie vorkommt nach über zehn Jahren ein Rezidiv, also eine Wiederkehr der Krankheit? Habe ich aus Fehlern der Vergangenheit nicht gelernt? Ist dies ein Zeichen sein bisheriges Leben zu überdenken?


Aber auch ganz andere Gedanken und Fragen drängen sich in mir auf. Ich fühle mich eingeschränkt in meinem „Mann-sein“. Mir wurde ein Hoden entfernt. Ich kann seit der letzten Tumorentfernung vor 10 Jahren bereits keine Kinder mehr zeugen und wieder wird mir ein Stück meiner „Männlichkeit“ genommen. Natürlich weiß ich, dass ein Hoden ausreicht für die Produktion von den männlichen Hormonen, aber ich fühle anders. 

Und so lasse ich den Tag enden zwischen Gefühlen und Gedanken und harre der Dinge, die morgen auf mich zukommen mögen...


 

 

29.09.2010

Die Nacht war wieder kurz. gegen 4.00 Uhr bin ich ins Bett und um halb acht klingelt der Wecker, der mir unmissverständlich sofort meine Situation wieder vor Augen führt. Ich habe einen Arzttermin beim Urologen.

Wieder sitze ich im Wartezimmer und es kommt mir schon so vor, als wäre ich zuhause. Ein schreckliches Gefühl irgendwo in der Fremde, wo man am liebsten nicht sein möchte dennoch irgendwie so etwas wie Bekanntheit zu empfinden. Ich möchte fort. Weg aus alledem, Hauptsache irgendwo anders sein als hier in diesem kahlen Wartezimmer mit diversen blauen Krebs-Hilfe-Broschüren um mich herum.

Der Arzt begrüßt mich freundlich aber gleichzeitig mit einem sorgenvollen und fragenden Blick. „Mir geht es körperlich soweit gut!“ antworte ich, obwohl seine Frage seinen Mund noch nicht verlassen hat. Er hat einen gestreiften Pulli an und sieht irgendwie aus wie Biene Maja in blau-grau. Ich schmunzle etwas in mich hinein.

Die letztendlichen Befunde vom Pathologen liegen leider immer noch nicht vor. Der Arzt sagt aber sehr bestimmt, dass ich um eine Chemotherapie wohl nicht herumkomme. „Sie hatten schon mal eine und haben trotzdem ein seltenes Rezidiv und das nach so langer Zeit! Die nächste Therapie muss sitzen. Ich denke da an ein spezialisiertes Fachzentrum. Dazu brauche ich aber erst die Befunde...“ Ich frage mich, wie in so wenigen Sätzen so viel Unwohlsein in mir ausgelöst werden kann. Schlimm genug, dass ich nun vielleicht doch noch eine Chemotherapie machen muss, droht mir dieses in irgendeinem Fachzentrum fernab meiner Heimat irgendwo in Deutschland. Mein ganzes Umfeld ist hier. Meine Familie, meine Freunde und Bekannte. 

Vor meinen Augen sehe ich mich irgendwo alleine in einem Zimmer liegen, mit Schläuchen und Transfusionen um mich herum, die das einzige in meiner Nähe sind. Alles was ich jetzt noch habe ist hier in meiner Heimat! Schlagartig ist mir wieder übel...

Ich fahre wieder nach Hause. Zumindestens muss das so gewesen sein, denn ich stehe irgendwann irgendwie wieder vor meiner Tür, ohne zu wissen, wie ich eigentlich dort hingekommen bin. Alles um mich ist wie in Trance und auch ich fühle mich wie ein Stück Watte im Wind.

Ich mache mir einen Kaffe und schaue aus dem offenen Fenster. Der Tag heute ist nach dem vielen Regen der letzten Tage so wunderbar. Keine Wolke am Himmel und die Luft ist so herrlich frisch. Ich atme tief ein und lasse die Frische in meine Lunge gleiten. Es tut gut, es belebt, es befreit für einen kurzen Moment. Momente; Ja genau, Momente. Das ist es, wie ich meine nächsten Tage gestalten muss. In vielen kleinen guten Momenten. Ich kann keine langfristigen Planungen tätigen zur Zeit. Bis zum 04.10. bin ich jetzt zuhause und muss dann wieder zum Arzt. Viele kleine gute Momente. Ich nehme mir also vor, mir selbst viele dieser kleinen guten Momente zu gestalten. Vielleicht brauche ich Hilfe dazu, aber ich nehme es mir fest vor!


 

 

30.09.2010

Die Sonne scheint wunderbar und ich genieße ihre Strahlen in meinem Gesicht. Ein wunderbarer Morgen begrüßt mich. 

Ich lag heute Nacht lange wach. Die Angst vor der Chemotherapie lähmt immer wieder. Sie lässt sich weder abschütteln noch wegdenken. Sie kriecht in mir hoch und fragt nicht danach ob ich ihr Zutritt gewähre. Sie kommt und geht stetig.


Ich befasse mich heute morgen mit „Platons Höhlengleichnis“ im Rahmen meines Studiums und ich komme mir ein wenig vor, wie die Gefangenen in der Höhle, die nur immer einen Schatten der Wirklichkeit sehen und es für die Wirklichkeit halten. Ich suche die Wahrheit hinter der Krankheit bin aber geblendet durch die Sonne beim Heraustreten aus der Höhle. Ich sehe nicht oder nur verschwommen. Ich muss heraustreten aus „meiner“ Wahrheit und meine Augen öffnen für das, was eigentlich dahinter steht. Aber es fällt mir gerade verdammt schwer.

Ich bin es nicht gewohnt, Dinge die einem widerfahren stetig zu hinterfragen und ich glaube immer noch, man muss nicht ewig durch alles hindurchschauen. Aber so manches Mal ist es wichtig, genau das zu tun. Zu fragen, hindurchzuschauen und das Dahinterliegende nach vorne zu holen, um zu verstehen...

...und wieder denke ich zuviel. Aber diese Krankheit fordert neben der körperlichen Anstrengung eben auch in gleicher Weise meinen Verstand, mein Denken, mein Fühlen. Das sind die Momente in denen man unmissverständlich vor Augen geführt bekommt, dass der Mensch mehr als die Summe seiner Zellen ist. 


 

 

01.10.2010

„...und es zeigt sich mal wieder in Deinen Worten, wie und was Du schreibst, was Dich so besonders macht und warum wir Dich so gern haben...“ Diese Aussage bezüglich meines Tagebuches, die mir gestern Abend aus meinem Freundeskreis zuteil wurde, tut gut. Und sie trifft mich ins Herz. 

Die Krankheit wirft mich zurück auf das Wesentliche. Auf die Beziehung zu mir selbst, zu meinen Mitmenschen, meinen Freunden, meiner Familie, zu Gott. Es kommt auf die Liebe, die Geborgenheit, die Nähe, das Vertrauen und das Mittragen an. Ich fühle mich aufgefangen, sicher, geborgen und geliebt und das ist so ein großes Geschenk für das ich so dankbar bin! Natürlich, der körperliche Schmerz ist nicht teilbar. Diesen Weg muss ich alleine gehen. Aber der Schmerz der meine Seele und mein Herz beschwert, der ist es. Ich beginne zu verstehen.


Draußen vor dem Fenster ziehen in den letzten Tagen mehr und mehr Vögelschwärme vorbei. Auf den Weg in den Süden, denn es wird kälter draußen. Mit jedem Flügelschlag nähern sie sich ihrem Ziel Richtung Sonne. Mit jedem Flügelschlag kämpfen sie gegen Wind, Schwerkraft und Umwelteinflüsse. Und auch für mich habe ich das Gefühl mit jedem Tag kämpfe ich darum, diese Phase meines Lebens zu bestehen und wieder in die Sonne zu gelangen. Aber anders als bei den Vögeln habe ich den Eindruck, dass ich mit jedem Tag, mit jedem „Flügelschlag“ Kraft gewinne und daran wachse.

Was mich nervt, ist das Warten. Das Warten auf die nächsten Schritte. Warten bis zum nächsten Montag. Ich bin von meinem Wesen her eigentlich oft ungeduldig. Und jetzt habe ich keine andere Chance als Warten. Und auch das ist eine der Aufgaben, die die Krankheit mir zukommen lässt. Der Krebs hat ziemlich viele Aufgaben für mich mitgebracht...


 

 

02.10.2010

Heute ist Samstag und ich habe frei. Dennoch ertappe ich mich dabei, wie ich am Schreibtisch sitze und arbeite. Einfach rumzusitzen löst in mir ein schlechtes Gewissen aus. Ich kann mich nicht an meinen letzten freien Samstag erinnern und das erschreckt mich. Andererseits tut die Abwechslung und die Ablenkung ganz gut. Es ist schon eigenartig. Irgendwie hat eine neue Zeitrechnung begonnen. Die Taktung geht nicht mehr von Projekt zu Projekt, von Ferien zu Ferien oder von Arbeitstag zu Arbeitstag. Vielmehr ist die Zeiteinheit jetzt von Moment zu Moment gerechnet. 


Ich muss seit der Operation diverse Tabletten einnehmen und mir ist immer etwas übel davon. Bunt und unscheinbar, aber mir Beipackzetteln umfangreich wie das Buch „der Zauberberg“ nehme ich sie ein, weil sie mir helfen sollen. Und gleichzeitig verursachen sie ein Unwohlsein.

Während ich so schreibe, streiche ich mir durchs Haar und erkenne plötzlich in den Dingen einen neuen Wert. Einem wird der Wert seiner Haare erst wirklich bewusst, wenn die Gefahr besteht, dass sie in Kürze aufgrund der Chemotherapie ausfallen könnten. Natürlich, sie werden auch wieder nachwachsen. Ich bekomme aber zu Allem einen ganz neuen Bezug. Ich beginne, mich selbst wieder wertzuschätzen und das was ich habe und das was ich bin in einem ganz neuen Licht zu sehen. Ist es nicht erschreckend, dass es dazu ein so hartes Stoppzeichen braucht, dass ich es kapiere?


 

 

03.10.2010

Ein neuer Tag wartet auf mich. Heute ist Sonntag, Tag der deutschen Einheit und Erntedankfest. „Man erntet was man säht!“, kommt mir in den Sinn. Ernte ich jetzt für den Raubbau an mir selbst und dass ich so lange nicht auf mich geachtet habe? Konsequent weitergedacht würde das bedeuten, ich müsste an diesem Tag Gott dankbar dafür sein. Ein eigenartiger Gedanke aber irgendwie dennoch wahr. Ich bin dankbar, ja. Ich bin dankbar für das Zeichen inne zu halten und seinen inneren Kompass neu einzurichten. Auch wenn das Zeichen ein hartes Zeichen ist, aber ein Anderes hätte ich vielleicht auch übersehen oder nicht beachtet. Ich kenne mich. Ich bin Grenzgänger, lebe gerne im „roten Bereich“ und da läuft man eben Gefahr, Grenzen zu überschreiten. Es ist irgendwie so, als würde man in einem Luftballon leben. Man kann Grenzen überschreiten um sie zu verschieben. Manchmal ist das nötig und auch richtig. Aber der jedem zu Verfügung stehende Raum bleibt immer gleich groß, da sich der „Ballon“, wenn ich eine Grenze verschiebe -bildlich gesprochen den Ballon also nach außen drücke- nur verformt. Das heißt, alle anderen Grenzen rücken nach. Man gewinnt also nicht unbedingt mehr Raum hinzu, kann aber trotzdem Neues entdecken. Will man die Grenzen aber zu weit verschieben, droht der Ballon zu zerplatzen. Und vor diesem „Zerplatzen“ will mich Gott, so glaube ich, bewahren.

Ich bin von mir selbst überrascht, über was man alles in so einer Situation beginnt nachzudenken.


Morgen ist nun also der Tag, an dem die nächsten Schritte besprochen werden. Ich bin nervös, aber heute trotzdem eigenartigerweise doch ruhiger als in den letzten Tagen. Irgendwie ist es gut, dass es wieder einen Schritt weitergeht und so mehr Klarheit für mich entsteht. Nur Warten und dass damit einhergehende Denken zermürbt.


 

 

04.10.2010

Um 12.00 Uhr sitze ich nun wieder wie unzählige Male zuvor im Wartezimmer von „Biene Maja“ und warte, dass ich ins Sprechzimmer gerufen werde. Dort angekommen erklärt er mir, dass die Befunde nun immer noch nicht da sind. Dieses Warten und diese Gefühlsachterbahn macht mich noch ganz wahnsinnig!


Ich fahre zu Freunden einen Kaffee trinken als mein Handy klingelt. Biene Maja meldet sich mit lieblich säuselnder Stimme und teilt mir mit, dass die Befunde direkt nach meinem Verlassen der Praxis eingetroffen sind und ich am Abend bitte noch einmal zu ihm in die Praxis kommen solle. Und wieder dreht sich die Achterbahn der Gefühle.

Erneut in der Praxis erklärt mir Biene Maja, wieder in seinem blau-grau gestreiften Pulli gekleidet, dass es sich bei meinem Tumor um einen Mischtumor handelt. Ein Seminom (die Heilungschance liegt bei 100 %) aber mit weiteren Tumorzellen behaftet, also einem Mischtumor. Auch der ist gut zu behandeln, aber eben durch eine relativ harte Breitspektrum-Chemotherapie. Zumal kein eingegrenzter Tumorherd angegriffen werden soll, sondern evt. einzelne verschwemmte Tumorzellen im Körper. Geplant sind derzeit drei Zyklen, die jeweils ca. drei Wochen dauern. Dazwischen liegt dann eine Woche Erholungszeit, dann beginnt der Zyklus von vorne. Rechnerisch wird dies bis zum Januar kommenden Jahres dauern, danach folgt eine Rehamaßnahme von ca. vier Wochen. Ich werde also frühestens im März kommenden Jahres wieder langsam beginnen können zu arbeiten. Und das Alles liegt nun vor mir. Mir wird ein wenig schummrig vor Augen. Bin ich dem gewachsen? Ja, ich bin! Ich bin ein Kämpfer und für diesen Wesenszug so unsagbar dankbar!Gut ist, dass dieses nun doch in der Klinik in der Heimat stattfinden kann und ich zumindestens meinen Familien- u. Freundeskreis in der Nähe habe in dieser Phase, vor der ich wirklich große Angst habe.


Und wieder bin ich am Abend damit beschäftigt meinen Familien- und Freundeskreis und meine Arbeitskollegen über die Entwicklungen des Tages zu informieren und für die nächsten vier Monate meine Arbeit in andere Hände zu geben. Auch dies ist für mich eine komplett neue Erfahrung. Dinge delegieren und auch ganz bewusst loslassen. Aber ich habe ein gutes Gefühl dabei, dass die Dinge trotzdem gut weiterlaufen werden. Weiß ich doch alles in guten Händen. Und so lasse ich mich darauf ein. Ich lasse mich darauf ein, die Chemotherapie als meinen Prozess zur vollständigen Heilung anzusehen und jeden Tropfen der Medikamente als Freund und Helfer zu begrüßen, auch wenn dieser Prozess eine körperliche und seelische Grenzerfahrung ist.


 

 

05.10.2010

Der Vormittag ist bestimmt von weiteren Telefonaten und dem Schreiben von emails um die anstehenden Arbeiten zu delegieren. Vieles ist zu bedenken und ich hoffe, ich vergesse nichts dabei. Ich bin derzeit verständlicherweise ziemlich abgelenkt. Verstärkt wird dieses Gefühl dadurch, dass vorgestern ein Bekannter von mir plötzlich an Krebs gestorben ist. In solchen Momenten wird einem der Ernst der Krankheit vor Augen gerufen. Und mir wird bewusst, wie wichtig die Einstellung zu der Krankheit ist um sie zu bestehen. Diese Einstellung war bei meinem Bekannten von Beginn an eine völlig Andere. Ich bedaure das sehr. Ich bedaure, dass er seine Chance nicht wahrgenommen hat. Ich bedaure, dass er sich aufgab. Ich bedaure es sehr, dass er starb.


Am Nachmittag ist nun der Termin in der Urologieabteilung der Klink, wo die Vorbesprechung der Chemotherapie stattfindet. Die Urologie liegt im 4. Stock der Klinik und ich nehme den Treppenaufgang. Wie oft ich diese Treppen wohl Stufe für Stufe in den kommenden Monaten erklimmen muss? 

Der Arzt (erst seit ein paar Tagen an der Klinik) will sich am späten Nachmittag noch mit einem Kollegen in Hamburg abstimmen, der in Deutschland Spezialist für meine Art der Erkrankung ist, aber vermutlich wird die Chemotherapie so ablaufen wie gestern vorbesprochen. Begonnen wird damit kommende Woche. Und trotzdem bin ich zur Zeit erstaunlich gefasst und ruhig. Ich werde mir bis zum Beginn der Therapie noch ein paar schöne Tage gestalten.


 

 

06.10.2010

Ich habe heute bis halb 12 geschlafen und bin ausgeruht aufgewacht! Ein wunderbares Gefühl! Ein guter Tag wartet auf mich. Draußen ist es wunderschön und ich habe Lust auf diesen Tag...


Am Nachmittag erhalte ich wieder mal einen Anruf von „Biene Maja“, der mir von dem Gespräch von dem Urologen der Klink und dem Spezialisten in Hamburg berichtet. Der Spezialist bewertet die Befunde anders und schlussfolgert daraus, dass es sich bei meinem Tumor nicht um ein Rezidiv, also einem wiedergekehrten Tumor, sondern um einen Primärtumor, also einem „Muttertumor“ handelt. Diese neue Bewertung würde auch eine neue Therapieform ermöglichen. Es würde dann eine Carboplatin-Monotherapie durchgeführt, die weitaus weniger Nebenwirkungen zu Folge hat und auch deutlich kürzer ausfallen würde.

Ob diese neue Bewertung wirklich zutrifft, sollen jetzt weitere Gewebeuntersuchungen klarstellen. Meine geplante Chemo ist also jetzt ersteinmal um ca. eine Woche verschoben.

Ich weiß gerade nicht, ob ich mich darüber freuen soll. Ich halte mich mit meinen Gefühlen gerade eher bedeckt, dann ist die Enttäuschung nicht so groß, wenn die neue Bewertung doch nicht zutreffen sollte und doch die härtere Chemo gefahren wird.

Mittlerweile habe ich ja eine ganze Schar an Ärzten mit meinen Fall beschäftigt. Das nun der Spezialist für meine Tumorart meinen Fall mit betraut zeigt zum Einem, dass ich wohl auch ein spezieller Fall bin zum Anderen gibt mir das aber auch ein bisschen mehr Sicherheit, dass ich in guten Händen bin. 

Dieses Auf und Ab dagegen macht einen aber nahezu wahnsinnig. Ich weiß nicht, worauf ich mich einstellen soll. Ich weiß nicht, was mich genau erwartet. Ich weiß nicht, wie ich damit umgehen soll. Die Krankheit fordert mich mit meinem ganzen Sein. Und wirft mich hin und her wie eine Nussschale auf dem Ozean. Und die Krankheit fragt mich nicht danach.

Die Aussichten sind gut, das beruhigt mich und alles andere lasse ich auf mich zukommen.

Also werde ich -wie die Tage zuvor auch- wieder warten.  Warum heißt die Krankheit eigentlich Krebs und nicht warten???


 

 

07.10.2010

Heute vormittag ist die Beerdigung meines Bekannten. Ich bin tief betroffen. Ich bin betroffen, dass dieser Mensch viel zu früh gehen musste. Ich bin wütend, ich bin verwirrt, ich bin traurig... 

Als ich ihn kurz nach seiner OP im Sommer 2009 besuchte, sagte er direkt zu mir: „Bald muss meine Familie alleine klarkommen.“ Diese Aussage kurz nach der eigentlich gelungenen OP und guten Prognosen traf mich sehr und machte mich auch wütend. Warum kann ein Mensch sich selbst so schnell aufgeben? Er hatte mir verboten, seine Familienmitglieder von seiner Aussage zu berichten. Sie sollten nicht wissen, wie er eigentlich wirklich über sein Schicksal denkt. Erst vor Kurzem hat er mit ihnen darüber offen gesprochen. Aber warum haben manche Menschen eine Einstellung für das Leben und manche Menschen eben nicht? Warum nehmen manche Menschen diesen Kampf auf und manche versagen sich dieser Anstrengung? Warum nahm er diesen Kampf nicht auf? Ein lebensfroher Mensch, liebevoll, humorvoll mit Spaß am Leben hat schlagartig sein Lächeln verloren. Das ist nicht fair. Warum bekommen manche Menschen eine positive Einstellung geschenkt und Anderen bleibt dieses Geschenk verwehrt? Und gleichzeitig bin ich so dankbar, dass ich dieses Geschenk in meinem Leben mitbekommen habe! Ich bin dankbar, dass ich trotz Alledem meine Freude am Leben nicht verloren habe.


Heute hat der „Biene-Maja“-Rat auch wieder getagt und mich danach mit einem Anruf beehrt. Am Dienstag früh soll ich auf der Urologiestation in der Klinik aufgenommen werden. Dann wird vermutlich die leichtere Chemoversion durchgeführt. Die Befunde der erneuten Untersuchung der Gewebeproben liegen zwar noch nicht vor, aber dennoch ist am Dienstag die Aufnahme. Entweder es bleibt bei der leichten Variante oder es wird (unwahrscheinlich, aber möglich) die härtere Therapie gewählt. Beides nehme ich an als meinen Weg der Heilung, wobei ich natürlich die leichtere Version bevorzuge.

Ich bin gut mit meinem Weg. Ich bin gut mit dem, was hinter mir liegt. Ich bin gut mit dem, was vor mir liegt!

 

 

08.10.2010

Schon wieder ein Freitag und das Wochenende steht vor der Tür. Die letzten Tage sind so rasant an mir vorbeigezogen und ich habe versucht alles das, was mir in dieser Zeit begegnete in mich aufzusaugen. Ich habe versucht, so gut es mir möglich war zu hinterfragen, zu durchleuchten und nach dem Sinn für mich zu fragen und ich muss zugeben, es hat mir gut getan bisher. Wobei ich auch sehr müde bin dadurch. Ich habe Kopfschmerzen von den letzten Tagen, Wochen, Monaten... 

Das Jahr 2010 hat mich wirklich gefordert und neben der körperlichen Anstrengung spüre ich auch die geistige Anstrengung, die an mir zehrt. Das Jahr 2010 hat meine gesamte Welt gehörig auf den Kopf gestellt. Wobei: wenn die Welt Kopf steht, vielleicht liegen Verrückte wie ich endlich richtig? Auch ein interessanter Gedanke...


Mir kommt dabei gerade die Jahreslosung 2010 in den Sinn: Jesus Christus spricht: „Euer Herz erschrecke nicht. Glaubt an Gott und glaubt an mich!“ (Johannes 14,1) 

Ich war dennoch erschrocken. Mich hat erschrocken wie schnell Dinge über einem zusammenbrechen und alles in einem neuen Licht erscheinen lassen. Ich war erschrocken und hatte Angst, da alles so schnell passiert, dass einem machmal keine Zeit zum Atmen bleibt. Aber dennoch ist genau das eingetreten, wie in der Losung weitergeführt. Mein Glaube an Jesus Christus und unseren Herrn hat mich diese Herausforderungen die in diesem Jahr über mich kamen, bisher bestehen lassen. Ja, mit großer Anstrengung und ja, auch manchmal mit letzter Kraft, aber immer mit Freude am Sein! Und so blicke ich auch weiter optimistisch auf das vor mir Liegende. 

„Per aspera ad astra - durch die Strapazen zu den Sternen!“. Dieser Satz eines Dozenten während meines Examens im damaligen Studium begleitet mich jetzt nun schon zehn Jahre. Und er stimmt und er ist für mich aktueller denn je...


 

 

09.10.2010

Wundersame Entspannung hat sich in mir breit gemacht. Das Wochenende ist einfach traumhaft schön und ich genieße es. Ein paar Tage Erholung bevor am Dienstag die Chemotherapie beginnt. Mir geht es gut, auch wenn mir etwas mulmig ist vor den Ergebnissen der Gewebeprobe und dem Beginn der Chemo. 

Auch die OP-Narben schmerzen nicht mehr und so ist auch körperlich gesehen eine positive Entwicklung zu spüren. Ich habe wieder Kraft und möchte gerne wieder loslegen und durchstarten und muss mich selbst bremsen dies nicht zu tun. Zu schnell würde ich sonst sicherlich in alte Bahnen geraten. Und das will ich nicht. Ich will nicht so weitermachen wie zuvor.


 

 

10.10.2010

Ein wundervoller Tag mit Freunden und meinem Hund am Meer liegt hinter mir. Herrliches Wetter, der Wind um die Nase, viele spielende Hunde am Strand und an der Küste tatsächlich Wasser. Sonst ist eigentlich wenn man dort ist rein zufällig gerade Ebbe. Lecker warmer Rhabarberkuchen und heiße Schokolade mit Sahne runden diesen großartigen Besuch am Ort der Gezeiten ab. Es tut gut sich in die Natur zu begeben und sich in Einklang mit ihr zu bringen. Ich bin gewappnet für die kommenden Tage in der Klinik. Ich habe aufgetankt und blicke gefestigt nach vorne. Natürlich wird die Chemotherapie ein „harter Ritt“, dessen bin ich mir bewusst, aber ich werde dabei nicht vom Pferd fallen! 


 

 

11.10.2010

Der Koffer ist gepackt, mein „Chemopaket“ ist gekauft. Fruchtbonbons (gegen den ekelhaften Geschmack der Medikamente, die zwar intravenös gegeben werden, aber sofort auch zu schmecken sind), O-Saft und Obst (Vitamine sind nie verkehrt) und Schokolade (für die Seele). 

Die letzte Nacht vor der Chemotherapie im eigenen Bett, keine fremde Zimmernachbarn, keine störenden Schläuche, piepsende Geräte oder Krankenschwestern und Pfleger, die einem vor den Frühstück schon nach dem Urinstatus befragen. Ich genieße den letzten Abend und bin doch jetzt ein wenig nervös. Wird jetzt tatsächlich die „kleinere“ Variante der Chemo gefahren? Wie werde ich die Chemo vertragen? Aber halt: das ist morgen! Heute bin ich hier...


 

 

12.10.2010

Ein Zimmer für mich alleine mit Blick in den Park. Dabei bin ich doch Kassenpatient?!

Wie dem auch sei, ich freue mich darüber, dass es so ist.

Heute wurde ich von einer Voruntersuchung zur anderen geschickt und mir brummt der Kopf davon. Die Blutprobe war dabei wieder gewohnt schwierig. Ganze fünf mal wurde ich gepikst, bis endlich die Probe in den Röhrchen war. Mein Arm sieht jetzt aus wie ein gerupfter Igel, zumal ich ihn schon rasiert habe für die Infusion morgen.


Der Hörtest zeigt heute eines meiner Defizite auf: „Oh, Sie hören aber wirklich schlecht!“ „Nein, das stimmt so nicht. Ich habe mir das Hörgerät nur zugelegt, weil es so hübsch ist.“ ist meine zugegebenermaßen etwas zynische Antwort. Aber in der Tat kann das Gehör später noch zu einem Problem werden, denn Carboplatin (den Wirkstoff, den ich morgen bekomme werde) schädigt massiv das Hörvermögen. Bei meiner Vorschädigung durch die letzte Chemotherapie und folgender beidseitiger Hörstürze hoffe ich, dass ich mein Hörvermögen nicht noch weiter einbüße. Das schränkt mich jetzt auch schon sehr ein.

Das Vorgespräch beim Arzt bezüglich der Chemotherapie ging natürlich auch auf die Risiken und Nebenwirkungen ein. Eine Chemotherapie kann Leukämie auslösen. Wieder einmal eine Ironie der Krankheit. Das Medikament gegen Krebs kann Krebs verursachen.

Eigentlich müsste man ständig über die Ironie schmunzeln, wenn es nicht so ernst wäre.

Dennoch, alle Voruntersuchungen erlauben nun morgen mit der Therapie zu beginnen. Morgen früh wird mir dazu der Zugang gelegt und ich hoffe nicht wieder „Igel-konform“. Mein „innerer“ Zugang, also meine Einstellung ist bereits gelegt. Ich gehe es an...


 

 

13.10.2010

Um 6.45 Uhr werde ich geweckt. Blutdruck, Puls, Gewicht und Temperatur messen. Dabei ist das Licht so hell und ich bin einen kurzen Moment verwirrt wo ich mich befinde. Ich war noch tief und fest im Land der Träume.

Nun stehen neben mir auf dem Nachtschrank in einem kleinen Becher drei kleine Pillen gegen Übelkeit. Die muss ich gleich nehmen um die anstehende Übelkeit von der Chemotherapie einzudämmen. Ich erinnere mich gut an die vergangene Therapie vor elf Jahren. Damals hatte ich stark zu kämpfen mit Erbrechen und Schleimhautentzündungen an allen möglichen und unmöglichen Stellen. Nach einiger Zeit reichte der Geruch eines Krankenhauses aus um Übelkeit auszulösen. Sicherlich auch ein Streich der Psyche.


Der Zugang ist mühevoll gelegt. Meine Venen sind vernarbt von den vielen Einstichen und der damaligen Chemotherapie. Auch mir vergeht wirklich langsam die Lust auf Braunülen und Zugänge jeglicher Art. Ich bin eigentlich nicht sehr schmerzempfindlich aber mittlerweile tun die Einstiche doch weh.

Jetzt ist endlich klar, welche Therapieform nun gefahren wird. Die letzten Befunde sind da. Mit großer Freude vernehme ich, dass mit der Monotherapie, also der kleineren und leichteren Variante meine Behandlung fortgefahren wird. Auch dies wird kein Spaziergang aber es ist um Einiges leichter zu ertragen als die andere Chemotherapie. 


Die erste Flasche des wie mit Christbaumschmuck behängten Infusionsständers wird angeschlossen. Kochsalzlösung zum „Vorbewässern“. Ich fühle es kalt in die Venen laufen, es zieht langsam den Arm hoch und schnell kommt es einen so vor, als könnte man jede einzelne Ader seines Körpers kalt spüren. Ein leichter salziger Geschmack macht sich im Mund breit. Ich nehme gleich einen Fruchtbonbon dagegen.

Der Perfusor zählt die Tropfen und blinkt bei jedem Einzelnen davon mit einem grünen Blinklicht vor Freude und beschwert sich sofort mit einem fiesen Pfeifton, wenn ich meinen Arm falsch lege und dabei den Schlauch abknicke. Ziemlich zickig das Ding. 

Nach einer Stunde wird der nun leere Beutel getauscht, jetzt kommt das Carboplatin zum Einsatz. Der Arzt hat dicke Schutzkleidung und Handschuhe an: „Das Mittel ist sehr giftig. Ich muss jeglichen Kontakt vermeiden.“ „Ja, dann man schnell rein damit, da ist es sicher...“, ich habe den Eindruck, die Krankheit lässt meinen eh schon sehr schwarzen Humor, noch schwärzer werden.

Klare Flüssigkeit tropft langsam durch den Schlauch in meinen Arm. Mittlerweile schon ein Liter. Ich muss ständig pinkeln davon und wuchte meinem „Christbaumständer“ stetig zwischen Bett und Toilette hin und her. Nach der Carboplatingabe folgt wieder ein Beutel Kochsalzlösung zum nachspülen. Insgesamt dauert die Prozedur vier Stunden. Ich bekomme Kopfschmerzen, Übelkeit und meine Verdauung spielt verrückt und ich hoffe, dass sich das Alles in Grenzen halten wird. Ich bin müde und könnte den ganzen Tag schlafen, versuche mich aber selbst in Bewegung zu halten. 

Am Nachmittag bekomme ich Besuch vom sozial-medizinischen Dienst des Krankenhauses um mit mir den Rehamaßnahmen-Antrag zu bearbeiten. Wenn alles gut geht, kann in vier Wochen die Reha starten. Aber jede Menge Papierkram, bei dem mich der gute Mann vom Sozialdienst unterstützt, denn ich fühle mich heute nicht wirklich dem Denken und Ausfüllen von Anträgen mächtig.

Ich versuche ein paar Schritte in den Park zu gehen, ein wenig Frischluft tut bestimmt gut...

...es bleibt bei ein paar Schritten, die Übelkeit fordert eine Umkehr ins Zimmer. Dabei ist das Wetter wieder so wunderschön heute. Ich versuche es nachher noch einmal. Wenn ich raus will, dann gehe ich raus! Ich fühle wie die Kraft, die Lust und das Verlangen wieder in mir aufsteigt den Chefposten in mir wieder wahrzunehmen. Ich bin Herr über meinen Körper, meiner Seele und meinem ganzem Sein und nicht eine Krankheit, die sich heimlich still und leise einschleicht und schon lange genug meinen Alltag bestimmt hat. Ich entscheide über mich! Sorry, Krebs, Du musst gehen! Hier ist kein Platz für Dich!

Es ist ein wenig wie die Situation in Chile, wo während ich diese Zeilen schreibe die Bergarbeiter befreit werden, nachdem sie monatelang unter Tage eingesperrt waren. Auch ich befreie mich. Ich war nicht unter Tage eingesperrt, aber ich befreie mich von dem, das mich gefangen gehalten hat. Und das fühlt sich so verdammt gut an!


 

 

14.10.2010

Die Nacht war kurz. Die Übelkeit hat sich zurückgezogen aber dafür sind enorme Gliederschmerzen und Kopfweh hinzugekommen. Außerdem ist mir kalt, mir brennen die Augen und ich bin tierisch schlapp, kann aber trotzdem nicht schlafen. 

Morgens wird wieder eine Blutprobe entnommen, die heute „schon“ im dritten Versuch klappte. Die Blutwerte sind gut und so darf ich das Krankenhaus heute verlassen. Ich packe also meine Sachen und habe das Abschlussgespräch mit dem Arzt. Die Behandlung ist abgeschlossen und nun werden die Nachsorgeuntersuchungen zeigen, ob die gesamte Behandlung von OP und Chemo auch erfolgreich bleibt. 

Wieder zuhause werden die Schmerzen schlimmer und mir ist immer noch kalt. Ich mummle mich mit zwei Pullovern unter die Decke und versuche mich etwas zur Ruhe zu begeben, was aber nicht wirklich gelingt.  Mein ganzer Körper bebt und ist gelähmt zugleich.

Am Samstag muss ich wieder in die Klinik um die Blutwerte zu überprüfen, da die Chemo ja auch die weißen und roten Blutkörperchen mindert und da ist die Gefahr von Infektionen oder Blutungen größer. Die Blutwerte haben ihren Tiefpunkt nach ca. fünf Tagen erreicht, so dass in den kommenden Tagen stetig die Werte überprüft werden müssen. Ich weiß, dass das sein muss aber ich habe wirklich keine Lust mehr auf Nadeln jeglicher Art.

Nächste Woche steht dann auch die Überprüfung beim Ohrenarzt an. Bisher habe ich nicht den Eindruck, dass mein Gehör sich verschlechtert hat. Aber die subjektive Wahrnehmung muss gerade beim Gehör ja nicht immer stimmen.

Und mit diesem Abschluss der medizinischen Therapie durch OP und Chemo endet hier diese Phase und beginnt der Prozess der Rehabilitation und psychologischen Verarbeitung. Das wird jetzt neben der körperlichen Rückgewinnung der Fitness eine der vor mir liegenden Aufgaben sein. Dieser Prozess ist mindestens genauso wichtig wie die körperliche Therapie und wird mich sicherlich nicht weniger fordern...


 

 

15.10.2010

Der Tag gestern war heftig und auch die Nacht war sehr hart. Das sich meine Befindlichkeit so rapide verschlechtert hatte ich nicht erwartet. Auch jetzt bin ich tagsüber noch ziemlich angeschlagen, verspüre dennoch eine Verbesserung zu gestern. Ich befürchte aber, dass sich eine Erkältung ankündigt. Bei meinem durch die Chemotherapie ruhiggestelltem Abwehrsystem käme das wirklich sehr ungelegen. 

Morgen muss ich in die Klinik um die Blutwerte überprüfen zu lassen. 

Insgesamt fühle ich mich eher gelähmt heute. Das Denken fällt mir schwer und meine Bewegungen sind wie in Zeitlupe. Meine Außenwelt zieht an mir vorbei, ohne dass ich auch nur den Hauch einer Chance habe irgendetwas wirklich aufzunehmen. Alles passiert meine Gedanken ungefiltert und ich nehme nichts wirklich auf. Ein eigenartiges Gefühl. Es ist wie das Leben in einer Blase und ich schaffe es gerade nicht mich da herauszudenken.

Ich bin so unwahrscheinlich müde...


 

 

16.10.2010

Geschlagene vier Stunden habe ich für eine Blutprobe in der Klinik zugebracht. Morgens um 9.00 Uhr war ich pünktlich da, um gleich die erste Probe abzugeben. Nach zwei Stunden hat man aber im Labor gemerkt, dass man einen Wert vergessen hatte zu bestimmen, also wurde eine erneute Blutentnahme durchgeführt. Auch heute bin ich noch zu schlapp um mich damit auseinanderzusetzen und lasse das irgendwie anteilnahmslos über mich ergehen. Ich war auf der Urologiestation der Klinik der erste Chemotherapie-Patient. Für alle Beteiligten also eine neue Erfahrung. Da kann man ja auch mal einen Blutwert vergessen. Aber zumindestens sind alle Werte in Ordnung. Gegen die Erkältung bekomme ich ein Antibiotika verschrieben. Am Montag soll ich erneut zur Blutprobe.

Ich fahre nach hause, lege mich wieder ins Bett und schlafe fast den ganzen Tag durch. Diese Müdigkeit steckt gerade in jeder Zelle in mir. Ich lasse es zu. Ich brauche die Erholung, mein Körper braucht die Erholung.


 

 

17.10.2010

Diese verdammte Erkältung. Da habe ich die OP und die Chemotherapie hinter mir und dann haut mich eine simple Erkältung so um. Wundert zwar nicht wirklich, dass nach der Chemotherapie der Körper geschwächt ist und so der Erkältung Tür und Tor geöffnet ist, aber dennoch eine eigenartige Ironie. Aber es ist nur eine Erkältung, die irgendwann ja auch wieder abklingen wird. Aber derzeit quält sie mich...


 

 

18.10.2010

Der Fahrstuhl rumpelt und hält im 4. Stock der Klinik. 

„Station C42 Urologie“ in weißen Buchstaben auf blauem Hintergrund zeigen mir, wo ich mich befinde. Es ist 9.00 Uhr und einige Patienten mit Infusionsständern schlurfen mir gedankenversunken entgegen und ich fühle mich drei Wochen zeitlich zurückversetzt. Ich sehe mich auf einem Mal selbst durch die Gänge laufen. Der Geruch in der Klinik tut sein Übriges dazu und ich fühle mich plötzlich irgendwie unwohl. 

Juhu! Blutentnahme am Morgen! Und dieses Mal ist es der Schwester schon im dritten Versuch gelungen. Die Schwestern in der Klinik müssen schon losen, wer es bei mir versuchen soll. Ich mache wohl deren gute Quoten kaputt. (Manche Dinge kann ich nur noch mit schwarzen Humor nehmen.)

Irgendwann sind dann ein paar Tropfen in den Röhrchen und mit schmerzenden Armen folgt das Abschlussgespräch bei einem der Urologen des „Biene-Maja-Rates“. Die Behandlung ist abgeschlossen und die Blutwerte weiterhin gut. Auch meine Erkältung ist schon etwas abgeklungen. Morgen steht noch die Nachuntersuchung beim Ohrenarzt an und dann habe ich bis zum kommenden Dienstag Arztpause! Keine Nadeln, kein Warten in etlichen Wartezimmern und kein Geruch als würde man in Desinfektionsmittel baden.

Ich freue mich so sehr darüber!

Am Dienstag kommender Woche beginnt jetzt die Rehamaßnahme in Bad Wildungen. Ich bin sehr gespannt, was da auf mich zukommt und ich freue mich darauf. Ich wünsche mir, dass ich dort für mich einige Dinge neu lernen kann, um mein Leben für Körper, Seele und Geist gesünder zu gestalten. 

Es werden verschiedenste Therapiemöglichkeiten angeboten. Ich werde in den kommenden Tagen darüber informiert und kann schon mal das mich Ansprechende daraus auswählen. Das Schlimmste habe ich hinter jetzt mir und ich bin auf einem guten Weg auch das vor mir Liegende für mich positiv zu gestalten. Mir geht es wirklich besser.


 

 

19.10.2010

Besuch zum Frühstück, anregende Gespräche und Sonnenschein durch das Fenster lassen den Tag gut beginnen. Da kann ich es auch aushalten, dass heute der vorerst letzte Arzttermin beim Ohrenarzt ansteht. 

Es pfeift in verschiedenen Höhen durch die Kopfhörer, zuerst auf der rechten Seite und dann auf der linken. Ein Knopf in meiner Hand wird von mir gedrückt, sobald meine Ohren den Ton wahrnehmen. Mit großen Augen schaut mich die Arzthelferin an und ich frage sie, ob mit der Untersuchung schon begonnen wurde. Es wurde begonnen... Ich nehme alle Töne sehr spät wahr, der Knopf wird von mir immer erst sehr verzögert gedrückt. Das Problem kenne ich grundsätzlich ja schon. Eine Verschlechterung zu letzter Woche scheint nicht vorzuliegen. In drei Monaten wird dies aber erneut überprüft, da das Chemomedikament noch für etliche Wochen und Monate in meinem Körper wirkt. So kann es auch sein, dass noch in den kommenden Wochen eine Verschlechterung eintritt.

Aber insgesamt scheint es auch auf der rechten Seite auf ein Hörgerät hinauszulaufen. Das ist aber derzeit nicht dran. Das wird erst bei meinem nächsten Termin im Januar Thema sein.

Auf dem Rückweg fahre ich schnell bei „Biene Maja“ vorbei, eigentlich nur um den Entlassungsbrief aus der Klinik dort abzugeben. Er bittet mich aber kurz zum Gespräch um den Nachsorgeplan abzusprechen. Bei meiner damaligen Erkrankung war die Nachsorge auf fünf Jahre festgelegt. In diesem Fall sind es zehn Jahre. In den ersten zwei Jahren muss ich alle drei Monate zur Nachsorge erscheinen, alle sechs Monate wird dabei auch eine Computertomographie gemacht. Sind diese Untersuchungen an sich ja schon unangenehm genug, wird man zudem noch in den nächsten zehn Jahren immer wieder an die Krankheit erinnert und immer wird auch die Angst zurückkommen, die Krankheit könnte wieder ausbrechen. Hier muss ich für mich einen Weg finden, damit umzugehen. Vielleicht werden mir dafür auch Wege in der Reha aufgezeigt.


 

 

20.10.2010

Draußen vor meinem Wohnzimmerfenster steht ein großer Regenbogen. In satten bunten Farben leuchtet er über den Bäumen hinter dem Garten. Gleichzeitig zieht ein ganzer Schwarm an Raben vor dem Fenster minutenlang seine Kreise. Ein bizarres Schauspiel! 

Gott sandte damals den Regenbogen nach der Flut als Zeichen seines Bundes mit den Menschen. Auch ich fühle mich verbunden. Auch in den letzten vier Wochen habe ich diese Verbundenheit gespürt. Das tut gut! Und gleichzeitig mache ich mir Gedanken. Gestern sagte „Biene Maja“, dass ich für immer ein Hochrisiko-Patient bleibe. Die Gefahr, dass der Krebs mich wieder heimsucht ist bei mir sehr groß. Die Befundlage sei bis heute nicht ganz eindeutig, weswegen es ja auch den „Biene-Maja-Rat“ mit einigen Ärzten und Spezialisten gegeben hat. Deswegen ist auch die Nachsorge auf zehn Jahre festgelegt. Diese Aussage gestern war für mich neu und hat mich auch ein wenig erschreckt. Ich fühle mich geheilt, ja. Aber dennoch wird es mindestens zehn Jahre dauern, bevor ich auch offiziell als geheilt gelte. Und auch danach bleibt bei mir das Risiko auch weiter bestehen. Es wird eine stetige Belastung für mich darstellen damit umgehen zu lernen.


 

 

21.10.2010

Ich bin immer noch schlapp und habe wenig Elan, spüre aber eine stetige körperliche Besserung meiner Situation. Allerdings bin ich dadurch auch weniger abgelenkt und merke, wie ich wieder mehr nachdenke. Es fühlt sich an wie eine Gefühlsspirale. Ich spüre Trauer, Wut, Angst, Freude, Hoffnung, Mut und alle möglichen Gefühlslagen die man sich vorstellen kann. Machmal gleichzeitig, machmal einzeln aber manchmal fühle ich auch gar nichts. Es sind viele Kleinigkeiten und Begebenheiten die einen unvermittelt treffen und mir Gedanken machen. Ich habe heute einen Anzug von mir in die Reinigung gebracht. Als ich fragte, wann er denn wieder fertig sei, fragte mich die Frau hinter dem Tresen: „Wie viel Zeit haben Sie denn?“ Sicherlich von ihr nur in der Form gemeint, wann ich den Anzug spätestens wieder brauche, aber dennoch fing ich auf dem Weg zu meinem Auto an zu grübeln. Wie viel Zeit habe ich? Ich habe wirklich nicht das Gefühl, dass meine Zeit bald um ist. Im Gegenteil. Aber in Phasen wie dieser beginnt man doch über sich und sein Leben anders nachzudenken oder besser gesagt, ich beginne überhaupt mal wieder über mich und mein Leben nachzudenken.


 

 

22.10.2010

Irgendwie weiß ich gerade nicht wohin mit mir. Mir fehlt ein fester Ort, eine Heimat zu der ich gehöre, eine Basis von der aus ich agiere. Eine Phase wie die Meinige ohne einen festen Partner zu durchleben ist anders, es fehlt die Basis, die mich trägt in meiner Situation. Ich spüre die vielen Freunde und die Familie um mich herum und das tut so wunderbar gut! Aber sie können nicht ersetzen, was eine Partnerschaft ausmacht. Und sogar ich selbst scheine neben mir zu stehen und mich selbst in meiner Situation zu beobachten. Manchmal ist es gut aus sich herauszutreten um seine Situation reflektiert zu betrachten. Aber es fühlt sich anders an. Es fühlt sich gerade so an, als passiere das Alles gar nicht mir selbst und gleichzeitig spüre ich die vielen körperlichen Symptome, die ganz eindeutig zu mir gehören. Es gibt Momente, da möchte ich nicht spüren, möchte mich selbst verlassen und mich von außen betrachten. Aber das Ganze passiert mir. Es betrifft, ja es trifft mich. Ein Gefühl, dass nicht zu betäuben ist, dass sich nicht weglachen oder wegdenken lässt. Es ist da und es ruft nach mir. Und es verlangt danach Beachtung zu finden.


 

 

23.10.2010

Die letzten Einkäufe für die Reha sind getätigt, die Waschmaschine läuft und mein Ordner mir den diversen Befunden und CT-Aufnahmen ist zusammengestellt und dennoch habe ich nicht das Gefühl, dass es bald losgeht. Ich funktioniere, mache die Dinge Schritt für Schritt die eben jetzt in diesem Moment dran sind, aber ich habe nicht das Gefühl das ich gestalte oder gar begonnen habe selbstbestimmt zu agieren. 

Viele Dinge die ich gerade tue, berühren mich irgendwie nicht. Das kenne ich in der Form nicht von mir. Eigentlich gehört es zu meinen Wesenszügen, dass ich die Dinge, die mir begegnen, bewusst wahrnehme und sie in mich lasse. Ich bin ein Kommunikations-Mensch und ich sauge normalerweise mein Umfeld in mich auf. Ich liebe es, mit offenen Augen durch die Welt zu gehen und viele kleine Dinge auf mich wirken zu lassen. Aber derzeit gelingt mir das nicht.


Beim Frühstück höre ich heute zum ersten Mal den Sekundenzeiger der Uhr. Und in jeder Sekunde scheint der Zeiger lauter zu werden. Das Ticken der Uhr erfüllt irgendwann den ganzen Raum. Jedes einzelne Klick erreicht mein Ohr, kreist in meinem Kopf und wird dort vom nächsten Klick überholt. Selbst als ich das Radio einschalte, klickt es in mir weiter und das macht mich nervös. Ich weiß nicht warum das so ist. Warum nehme ich mein Umfeld gerade so wenig wahr, aber das Klicken der Uhr bohrt sich in alle meine Sinne?


 

 

24.10.2010

Schon eigenartig. Das Wetter draußen spiegelt in den letzten Wochen häufig mein Gemüt wieder. Oder passt sich mein Gemüt dem Wetter an? Es ist heute sehr wechselhaft draußen und so fühle ich mich auch. In einem Moment geht es mir gut und in einem anderen Moment ziehen die Wolken auch in mir auf.

Dieses Auf und Ab ist schwer zu ertragen. Ich kenne das nicht von mir. Ich bin ein positiver Mensch und habe Spaß am Leben. Ich genieße mein Sein auf dieser Welt und ich liebe es, sie ein kleines Stück positiv mit zu gestalten. Aber derzeit tritt dies dann und wann in den Hintergrund. Es ist scheinbar so, dass der Krebs im Gegenteil manchmal eher mich gestaltet. Er prägt mich ungefragt und hat Einfluss auf meinen Alltag. Er bestimmt einen großen Teil meiner derzeitigen Gedanken und Gefühle und das nervt mich. Ich bestimme über mich! Es wird höchste Zeit, dass ich das Ruder wieder in die Hand nehme und selbstbestimmend mein Leben gestalte. Es wird höchste Zeit... 


 

 

25.10.2010

Nun sind die Koffer gepackt und alles steht abfahrtbereit vor der Tür. Und auch ich bin bereit. Ich bin bereit, mich auf das vor mir Liegende einzulassen und mich ganz in die, in meine Reha zu begeben. Aber ich bin auch etwas nervös. Rehabilitation. Das Synonym dafür ist Wiederherstellung. Ich soll also wiederhergestellt werden. Aber will ich das eigentlich? Soll Alles so bleiben wie vorher? Ist ein besseres Wort dafür nicht Neueinstellung? Ich stelle mich auf die Dinge, auf mein Leben, auf das was vor mir liegt neu ein? Ich glaube das trifft es besser. Ich möchte nicht wiederhergestellt werden. Höchstens körperlich möchte ich meine alte Fitness zurück. Aber für alles Andere wünsche ich mir neue Sichtweisen oder neue Zugänge. Ich wünsche mir, dass mir das gelingt. Ich bin sehr gespannt...


 

 

26.10.2010

Regenwetter. Den ganzen Tag regnet es schon und ich bin auf der vierstündigen Autofahrt nach Bad Wildungen. Um 15.00 Uhr muss ich da sein. Es wird bergiger und die Farben der Bäume haben eine wunderbare herbstliche Mischung. Die Klinik ist gelegen in einem beschaulichen kleinen Kurort. Reinhardshausen bei Bad Wildungen. Nach Party am Abend sieht es hier nicht aus.

In der Klinik scheine ich der jüngste „Rehabilitant“ (so die offizielle Bezeichnung unsereins) zu sein. Alle anderen Patienten sind deutlich älter. Bin sehr gespannt, wen man hier so kennenlernt.

Ein kurzer zehnmenütiger Begrüßungsvortrag und eine Hausführung und schon ist das Programm für heute um. Ich entschließe mich, am Abend einen Gottesdienst an der CVJM-Hochschule zu besuchen. Die Hochschule ist nur 50 km entfernt. Die Gemeinschaft erdet mich ein wenig und erleichtert mir den Einstieg in meine Reha.

Ich muss jeweils um 22.30 Uhr wieder in der Klinik sein, danach wird hier alles abgeschlossen. Man kommt sich ein wenig vor, wie im offenen Vollzug. Ich habe zudem wider Erwarten kein wlan am Zimmer, was mir das Studieren im online-Studiengang als auch das Schreiben meines Tagebuches erschwert. Es gibt einen Accesspoint in der Lobby. Also wandere ich dann und wann mit meinem Laptop unter dem Arm durch die gesamte Klinik.

Jeden Abend zeigt der Therapieplan in meinem Postfach, wie der Tag morgen gestaltet ist. Ich beginne morgen früh um 6.45 Uhr mit Altbekannten. Der Blutentnahme. Die armen Pfleger haben ja noch gar keine Ahnung worauf sie sich da einlassen!


 

 

27.10.2010

5.55 Uhr, mein Wecker klingelt. Das ist ja echt eine unmenschliche Zeit. Ich denke, ich soll mich hier erholen? Vor dem Frühstück schon Blutentnahme, Urinprobe und Aufnahmeuntersuchung beim Arzt. Ich hatte noch keinen Kaffe und das nervt mich!

Drei Schwestern und Pfleger sind mit meiner Blutentnahme beschäftigt. Die erste Schwester hat nach zwei Versuchen aufgegeben, die anderen beiden haben ein Pärchen gebildet und so versucht meine Adern auszutricksen. Der dritte Versuch dieser beiden gelingt! Tarnen, täuschen, verpissen ist wohl die Devise meiner Adern. Sie sehen gut aus, beim Einstich sind sie aber auf einmal weg. Die Einzigen, die daran gewinnen sind die Kanülenhersteller, da jedes Mal eine neue genommen werden muss.

Die weitere Aufnahmeuntersuchung beim Arzt ist komplikationslos und nach 30 Minuten vorbei. Danach darf ich endlich frühstücken!

Auch die Untersuchung beim Urologen zeigt keine besorgniserregenden Ergebnisse, alles ist in Ordnung. 

Meine Arme schmerzen immer noch durch die Chemotherapie und die vielen Einstiche der diversen Blutentnahmen. Dagegen bekomme ich Wechselduschen verordnet. nach dem Frühstück beginnt also die erste Anwendung. Ich stecke meine beiden Arme in zwei Trichter in denen 30 Sekunden 36 Grad warmes und dann 15 Sekunden 11 Grad kaltes Wasser über meine Arme läuft. 11 Grad sind wirklich kalt und ich muss mich erst dran gewöhnen. Nach 15 Minuten ist die Anwendung beendet und ich fühle sofort, wie der Kreislauf angeregt wird.

Mein Zimmer ist im 7. Stockwerk und ich entschließe mich auf den Fahrstuhl zu verzichten und während der Reha nur die Treppen zu benutzen. Der erste Aufstieg ist echt anstrengend und ich merke, dass mein Körper noch sehr geschwächt ist. Daran werde ich hier arbeiten.

Am Nachmittag darf ich noch ein Kohlensäurebad als Anwendung genießen. Baden in warmen Mineralwasser - auch eine schöne Vorstellung...


 

 

28.10.2010

Ich habe doch echt schon Muskelkater. Das Treppensteigen bleibt wohl nicht ohne Folgen. Das Ergometer- und Krafttraining fordern meine Muskulatur zusätzlich heraus. Aber jedem Schmerz wohnt bekanntlich ja auch ein Zauber inne. Ich fördere meine Fitness und ich spüre, wie ich täglich ein wenig stärker werde.

Interessant, erschreckend und zum Teil auch amüsant ist, dass ich bei den Mitpatienten oder richtigerweise Mitrehabilitanten schon als der Diakon bekannt bin. Bei jeder Gelegenheit erzählt mir jemand seine Lebensgeschichte und schaut mich dabei mit offenen und fragenden Augen an, als ob ich den Schlüssel für jede Fragestellung parat habe. Aber man lernt dabei viele spannende Lebenswege kennen. Aber richtig aufnehmen kann ich das derzeit nicht so wirklich. Mein eigener Weg fordert mich derzeit maßgeblich und in kraftaufreibender Form.

Man begegnet hier vielen Menschen die alle gerade ihr Päckchen zu tragen haben und mir fällt auf, dass die meisten wirklich irgendwie gebückt gehen und in sich gekehrt durch die Gänge laufen. Die Zwischengespräche handeln zumeist davon, welche Anwendung gerade dran war und welche nun folgt, welches Essen es heute gibt und warum der Postbote heute fünf Minuten später gekommen ist. Überall ist Krankheit um mich herum und ich halte mich deshalb zwischen den Anwendungen viel draußen auf. Die Tage ziehen hier so vorbei und man konzentriert sich zwangsläufig sehr auf sich. Ich lerne mich wieder neu kennen.


 

 

29.10.2010

Der Muskelkater macht sich gerade überall breit. Das Krafttraining heute morgen schlaucht ganz schön. Der Fitnesstrainer musste mich wiederholt ausbremsen. Mein Ehrgeiz geht wohl manchmal mit mir durch. Ich möchte schneller als mein Körper schon kann und darf. 

Zum Ausgleich hat die Wärmepackung mich heute mittag so wunderbar erholt. Man spürt die Wärme wie sie Zelle um Zelle erreicht und den ganzen Körper in eine Art Trancezustand versetzt. 


Nun steht das Wochenende vor der Tür und ich bin gespannt, wie mir das bekommt. Es gibt morgen nur noch eine Anwendung und danach kein weiteres Programm bis Montag früh. Ich weiß, dass es mir schwerfällt nichts zu tun. Ich bin ein Aktiv-Mensch. Und genau da befinde ich mich wieder in meinem schwierigsten Lernfeld. Pausen zuzulassen, sich auf sich selbst konzentrieren und sich selbst gut tun, ist das worum es bei mir gerade geht. Warum ist das Lernen eigentlich so schwer?


 

 

30.10.2010

Gestern habe ich ich eine kleine Hausarbeit im Rahmen meines Studiums abgegeben. Das Thema des Essays: „Wie bin ich der geworden, der ich heute bin und wie werde ich der, der ich morgen sein will.“ Die Fragestellung ist mir nicht leicht gefallen.

In meiner derzeitigen gesundheitlich schwierigen Situation beschäftige ich mich viel mit mir und meinem Sein. Ich befinde mich in einem Prozess der Selbstreflexion und das Tagebuchschreiben gibt mir dazu eine segensreiche Hilfestellung. Das Tagebuch ermöglicht mir einen unzensierten Blick auf meiner Selbst. 

 

 

Zu meinen Wesenszügen gehört es, dass ich schon immer selbstreflektiert handele und die Dinge die ich tue, bewusst vollziehe und dabei auch hinterfrage. Ich war in meiner Jugendzeit eher ein Einzelgänger und habe dadurch schon immer viele Dinge mit mir selbst ausgemacht. Durch diesen Umstand war ich zwangsläufig auf mein eigenes Bild von mir selbst angewiesen, da ich wenig Rückmeldung dazu von außen bekommen habe. Ich war und ich bin sensibel für meine Außenwelt und habe Begabung im musischen Bereich. Ich bin nach dem Enneagramm-Modell in Richard Rohrs und Andreas Eberts „9 Gesichter der Seele“ wohl am Ehesten das, was man als „Vierer-Modell“ bezeichnen würde. Damit haben wir uns im Studium befasst und ich finde mich in diesem Typ ziemlich genau wieder. („VIERer setzen ihre Gaben dafür ein, in ihrer Umgebung den Sinn für Schönheit und Harmonie zu wecken. Sie sind hochsensibel und fast immer künstlerisch begabt, sodass sie ihre Empfindungen in Tanz, Musik, Malerei, Theaterspiel oder Literatur ausdrücken können. Alles, was Lebensenergie hat, zieht sie an; sie erfassen die Stimmungen und Gefühle anderer Menschen und die Atmosphäre von Orten und Ereignissen mit seismographischer Genauigkeit.

VIERer sind von Natur aus ,,ökumenisch' ausgerichtet; die Aufspaltung der Welt in ,,sakral" und ,,profan" ist ihnen fremd. Im Bereich des Unbewussten, der Symbole und Träume sind sie mehr zu Hause als in der realen Welt. Symbole helfen ihnen, bei sich zu sein und sich auszudrücken. Sie haben auch die Gabe, anderen zu helfen, einen Blick für das Schöne und für die Welt der Träume und Symbole zu entwickeln.“)

Diese Beschreibung passt zu mir auch wenn ich häufig diesen Typus unterdrückt habe. Dennoch, die Kunst zieht sich wie ein roter Faden durch mein Leben. Nach meiner Tischlerlehre habe ich die Laufbahn des Erziehers und Diakon eingeschlagen. Diese Kombination beider auf den ersten Blick sehr unterschiedlicher Berufe haben mich bis heute sehr geprägt. Ich mag das Schaffen mit meinen eigenen Händen und die Gestaltung des gesamten Prozesses von der ersten Idee bis zum fertigen Möbelteil. Ich kann wirklich etwas entstehen sehen und mich an dem Kunstvollen erfreuen. Aber auch in meinem derzeitigen Berufsleben als Erzieher und Diakon kann ich künstlerisch tätig sein. Ich kann Beziehungen zwischen Menschen mitgestalten und wachsen sehen. Ich kann Menschen in schwierigen Situationen neue Denkmodelle aufzeigen. Das macht Spaß und verschafft mir eine innere Befriedigung. Ein Defizit allerdings ist, dass es mir bisher selten gelungen ist, diese Möglichkeit bei mir selbst auch zu nutzen. Mir selbst neue Denkmodelle aufzuzeigen und meine Einstellungen stetig zu überprüfen gehört zu meinen schwierigsten Prüfungen.

Der musische Bereich ergänzt meine künstlerische Ader und hilft mir sehr bei der Selbstreflexion. Ich schreibe eigene Lieder und kann in den Texten viele Dinge verarbeiten. Leider habe ich in der Vergangenheit auch diese Möglichkeit zu selten genutzt.

Ich vergesse bei meiner Lebensgestaltung mich selbst und meinen Familien- und Freundeskreis leider sehr schnell. Nach meiner ersten Krebserkrankung 1999/2000 habe ich gedacht, ich habe daraus gelernt, kann mich selbst wieder mehr wahrnehmen und für mich selbst mehr sorgen. Doch musste ich feststellen, dass ich sehr schnell wieder in „alte Bahnen“ zurück gefallen bin. Ich arbeite gern und habe sehr große Freude und Spaß daran, aber ich habe dabei die Grenze zwischen Arbeit und Zeit für mich selbst oft zu weit verschoben. Ich habe Züge eines „workoholics“ und habe Schwierigkeiten, mich selbst immer wieder zu besinnen und den Blick auf mich selbst zu wagen oder mir schlichtweg genügend Erholung zu gönnen. Ich habe meine Familie und meine Freunde oft vernachlässigt und das bedaure ich sehr. Nun habe ich diesen Punkt darüber nachzudenken und meine Einstellung zu überprüfen erneut erreicht. Ich sehe meine derzeitige Krankheit immer noch als deutliches Stoppzeichen und versuche gerade mich neu zu orientieren und meine Einstellungen wieder etwas gerade zu rücken.


Der zweite Teil der Frage des Essays: „Wie werde ich der, der ich morgen sein möchte?“ ist für mich auch nicht einfach zu beantworten.

Mir fällt bei dieser Fragestellung schon alleine schwer zu sagen, wer ich eigentlich morgen sein möchte. Ich  bin Jan-Hinnerk und möchte auch dieser bleiben. Ich bin grundsätzlich zufrieden mit meiner Persönlichkeit und meinem Sein. Was ich neu gestalten möchte ist  das gesunde Gleichgewicht zwischen Beruf und der nötigen Zeit für mich selbst.

Im Studium musste ich gerade ein weiteres Buch lesen. „Die 7 Wege zur Effektivität“ von Stephen R. Covey, der in diesem Buch Prinzipien für persönlichen und beruflichen Erfolg beschreibt. Eines dieser Wege beschreibt schon am Anfang das Ende im Sinn zu haben, also eine klare Zielsetzung zu Beginn seines Weges.

Für mich erscheint in Coveys Ausführungen dieser Weg für meine Problemlage ein guter Weg zu sein. Ich muss mir bewusst machen, was ich möchte oder besser, welches Ziel ich verfolge: Ich möchte eine gesunde Balance zwischen Arbeit und Zeit für mich schaffen und somit mein Leben gesund gestalten. Eine klare Zielsetzung bietet eine wunderbare Möglichkeit eine Messlatte an sich selbst anzulegen und somit stetig zu überprüfen, ob mein Handeln mit meiner Zielsetzung konform geht oder ob ich manche Dinge neu ausrichten muss. Mir ist bewusst, dass es auch Mut braucht, diese Messlatte immer wieder neu anzulegen und somit auch sich selbst zu überprüfen. Denn man läuft „Gefahr“ zu merken, dass sein Handeln nicht seiner Zielsetzung entspricht. Ich wünsche mir, dass ich diesen Mut immer wieder finde und aus meinen Fehlern lernen kann. Es ist nötig! Es ist jetzt nötig! Wie viele Stoppzeichen erträgt ein Mensch?


 

 

31.10.2010

Gestern hatte ich Besuch. Dieser Besuch hat sehr gut getan. Es ist so gut zu spüren, dass ich in meiner Situation nicht alleine bin. Es ist so wunderbar, die Hände eines Freundes zu ergreifen zu können.

Als ich heute Nacht über den schönen Tag nachdachte, viel mir plötzlich eine Begebenheit ein, die ich vor ein paar Jahren auf dem Rückweg von einem Hilfstransport nach Belarus erlebte:

Lautes Gelächter. Ich sitze mit meinem Kumpel im Auto in einer großen polnischen Stadt auf dem Wege von Belarus nach Hause. Gerade hat er einen Witz gemacht. 

Wir stehen vor einer rotem Ampel auf der Geradeausspur und sind bester Laune. Dann plötzlich Reifenquietschen und ein lauter Schlag. Eine Frau wird durch die Luft geschleudert, die gerade noch den Zebrastreifen überquerte. Ihr Korb mit ihren Einkäufen verteilt sich über die gesamte Kreuzung. Ich weiß nicht wie viel Zeit verging bis ich mit dem Erste Hilfe Koffer zur ihr eilte. Sie hatte große Verletzungen, sie blutete aus vielen Wunden, Gewimmer und Geschrei schallt über die Kreuzung. Gedankengegenwärtig helfe ich wie ich es gelernt habe. Ein Arzt kommt zufällig hinzu und gemeinsam leisten wir Hilfe. Die Frau hält meine Hand. So fest, dass es fast schmerzt. Aber es scheint sie zu beruhigen. Ich versuche ihr in die Augen zu schauen, aber sie ist bewusstlos und zeigt kaum Reaktionen. Ich kann auch ihre Sprache nicht. Was könnte ich ihr auch sagen? 

Irgendwann hören wir das Martinshorn des Krankenwagens. Erst jetzt registriere ich was passiert ist. Der Arzt und ich schauen uns an, wir beide vermuten, dass sie es nicht schaffen wird – zu groß sind ihre Verletzungen. Ich beginne zu zittern und muss mich setzen. Der Arzt setzt sich dazu und wir versuchen in Englisch das Erlebte zu verarbeiten. Nach einer Weile gebe ich ihm meine Karte. Wir wollen nach Hause der Weg ist noch weit. Am nächsten Parkplatz halten wir wieder an. Ich kann so nicht fahren. 

Wie geht es der Frau? Hat sie Schmerzen? Habe ich alles richtig gemacht? Die Gedanken kreisen und geben mir keine Ruhe. Die Weiterfahrt ist still. Mein Freund und ich reden kaum. Irgendwann am Abend klingelt mein Handy. Der Arzt ist am anderen Ende und erzählt mir, das die Frau verstorben ist. 

Mir wird klar wie dicht Glück und Leid beieinander liegen. Eben noch gelacht und gescherzt, einen Augenaufschlag später Zeuge dieses Unglückes.  

Wie habe ich dieser armen Frau helfen können? Sie ist trotz meiner Hilfe gestorben. Dann fällt mir dieser Händedruck ein. Sie hat gespürt das sie nicht alleine ist und scheinbar hat es sie beruhigt. Ich konnte sie nicht retten. Ich konnte lediglich ihr in dieser schweren Stunde beistehen so gut ich es konnte.

Wie lapidar gehe ich so manches Mal mit Händereichen um. Im Vorbeigehen wird jemandem schnell die Hand gereicht, ohne sich einen kurzen Moment Zeit füreinander zu nehmen. Wie wichtig kann doch das Händereichen sein. Ein kurzen Moment verweilen, einander in die Augen schauen, fragen, wie es einem geht, Anteilnahme zeigen... Ich nehme teil an Deinem Leben, ich freue mich Dich zu sehen. Jetzt in diesem Moment sind wir zusammen, sind einander nahe… Auch dies lehrt mich die Krankheit neu. Nicht nur mich bewusster wahrzunehmen, sondern auch meine Mitmenschen.

Es ist so schön zu spüren, dass ich Menschen um mich herum habe, die Anteil daran haben wie es mir geht. Es ist gut zu wissen, wo auch immer meine Reise hingehen mag, dass ich nicht alleine reise. 


 

 

01.11.2010

Raum 113. Ich gebe ihr ein Taschentuch herüber. Die Tränen fließen ihr über die Wangen und ich bin damit extrem überfordert. Ich fühle mich matt. Ich sitze in einem kleinen Raum. In der Mitte steht ein Tisch um den zwei Stühle gestellt sind. Bunte Bilder an der Wand sind auf fröhlich gemacht und eine Kerze brennt in der Ecke des Raumes. In den Regalen stehen diverse Bücher, die ich aus meiner Ausbildung her kenne. Unter anderem die „Psychologie des Menschen“. Ich sitze im Sprechzimmer der Psychologin zur ersten Sitzung und sie weint. Ich kann damit gerade schwer umgehen. Ich finde mein Leben nicht so verkorkst, dass selbst berufliche Experten wie die Psychologin darüber in Trauer verfallen sollten. Sollte eine Therapie nicht eigentlich andersherum funktionieren? Sollte die Psychologin nicht eigentlich mir Wege aufzeigen mein Gedankengeflecht zu entwirren? Stattdessen habe ich gerade das Gefühl, ich überfordere sie mit meiner Situation. Und wieder kommt die Schwere in mir auf, ich falle meinen Mitmenschen zur Last. Und es stimmt irgendwie. Diese verdammte Krankheit Krebs beschwert nicht nur mein eigenes Leben, sondern bewegt und belastet auch meine Mitmenschen. Extrem unfair und ich frage mich, wie eine Krankheit eine solche Macht bekommen kann.

Am Freitag habe ich einen neuen Termin bei der Psychologin und sollte ich das Gefühl behalten, sie kommt mit meiner Situation nicht zurecht oder ist überfordert, werde ich nach einem anderen Psychologen suchen. Echt eine bizarre Situation. Ich möchte gerade Last abgeben und habe keine Kraft weitere Last aufzunehmen. Ist meine Gedankenwelt wirklich so verworren, dass selbst Experten daran scheitern?


 

 

02.11.2010

Ich spüre jedes einzelne Kohlensäurebläschen von unten aufsteigen, meinen Körper streifen und sehe, wie sie perlend die Oberfläche erreicht und dort zerplatzt. Für einen kurzen Augenblick habe ich das Gefühl, jede einzelne dieser Perlen nimmt ein winzig kleines Stückchen meiner Last, Schmerzen und harten Erfahrungen der letzten Wochen von mir ab und mit dem Zerplatzen an der Wasseroberfläche wird diese Last abgegeben. 

Ich hänge immer noch irgendwie der Situation gestern bei der Psychologin nach. Weinen kann reinigen. Ja, es kann sogar befreien und entlasten. Ähnlich wie mein Kohlensäurebad in dem ich gerade liege. Das weiß ich und auch ich kann manchmal weinen und hab es in meiner derzeitigen Situation schon getan. Aber ich war gestern überfordert damit, dass die Person, die mir gerade Wege aufzeigen soll... Hm, vielleicht hat sie das damit ja auch getan. Sehr unkonventionell und wie ich finde auch unprofessionell, aber dennoch. Weinen. Eine Phase der Reinigung. Auch das ist für mich die Reha. Mit Tränen kann ich auch Last abgeben. Aber bitte dann doch meine Tränen und nicht die meiner Psychologin.


 

 

03.11.2010

Ein langer Spaziergang heute morgen durch die herbstliche Landschaft. Ein leichter Nieselregen und frischer Wind befreien. Die leichte Kühle belebt und erfrischen meinen Kopf nach vielen heißen Gedanken der letzten Wochen. Ich beobachte ein Blatt, dass vom Wind getragen vom Baum fällt und umhersegelt. Ich genieße diesen Augenblick und freue mich darüber, dass dieses Blatt mit Leichtigkeit den Weg des Windes folgt. Ich wünsche mir auch mehr Leichtigkeit. Leichtigkeit, die die Schwere meiner Last abnimmt und hinfortträgt. Ein wenig dieser Leichtigkeit habe ich mir bereits mühsam zurückerkämpft. Und damit meine ich nicht, die Dinge die gerade mit mir und um mich herum geschehen auf die leichte Schulter zu nehmen. Ich meine die Leichtigkeit, die es mir ermöglicht trotz der dunklen Wolken die Sonne darüber wahrzunehmen. So wie dieser Moment hier draußen auf dem Spaziergang. Es ist bewölkt und diesig, aber ich weiß, die Sonne darüber ist da. Sie scheint mit unverminderter Stärke und dabei ist es egal, wie viele Wolken auch immer zwischen ihr und der Erde liegen. Sie ist da. Sie scheint. Sie wärmt.


 

 

04.11.2010

Meine Finger drücken zuerst zögerlich, dann immer intensiver über die Tasten und mit jedem Druck schwingt ein Ton mit langem Nachhall durch die Kirche. Ein großer schwarzer Flügel steht im Altarraum einer in weißen Lochsteinen gemauerten Kirche. Die Fenster bunt und schnörkellos, die Kanzel aus Holz und stylisch, als hätte ein Tischler ihn zu einem Designwettbewerb gebaut. Der Raum ist hoch, an der Decke vertäfelt und mir gegenüber eine eher kleine, weiße Orgel mit silbernen Pfeifen die pedantisch nach oben ragen als würde sie nur drauf warten, dass endlich ein Luftstrom durch sie dringt. Auch das Kreuz hängt ohne Schnörkel aus zwei dicken transparenten aber bemalten Folien bestehend hinter dem Altar, der wiederum als Solches aber nicht wirklich zu erkennen ist. 

Die Akustik ist überraschend großartig. Ich spiele heute überwiegend die schwarzen Tasten, ohne dass ich da vorher drüber nachdenke. Ich bin mir ziemlich sicher, dass man das auch psychologisch-wissenschaftlich untersuchen kann. Ich spiele die schwarzen Tasten überwiegend dann, wenn ich viel nachdenke. Ich spiele mich selbst ein wenig in Trance. Die Texte meiner Lieder kenne ich größtenteils auswendig und muss mich nicht darauf konzentrieren. Ich genieße diesen Moment so unsagbar. Ich habe schon seit Ewigkeiten nicht mehr Klavier gespielt und ich merke gar nicht, wie die Zeit vergeht. Zwei Stunden spiele ich so und ich bekomme nicht mal mit, dass sich einige Menschen in der Kirche eingefunden haben und mir anscheinend seit längerem schon zuhören. Erst als ich aufstehe erblicke ich mit großen und überraschten Augen einige Menschen in den Reihen sitzen. Zwei dieser heimlichen Zuhörer haben Tränen in den Augen. Und schon wieder bringe ich ein paar meiner Mitmenschen zum Weinen. Irgendetwas habe ich an mir. Irgendetwas strahle ich aus. Irgendetwas liegt in meinen Texten oder irgendetwas in meiner Musik. Dabei bin ich eigentlich ein fröhlicher Mensch. Ich habe einen trockenen, zugegebenermaßen manchmal derb schwarzen Humor und ich liebe es zu lachen und andere zum Lachen zu bringen. Vielleicht sollte ich mir für den Rest der Reha eine rote Nase aufsetzen oder so.

Mir hat die Musik auf jeden Fall so gut getan. Ich habe die Pastorin gefragt und ich darf so lange ich hier bin jederzeit den Flügel nutzen. Das ist gut, das ist sogar sehr gut! Und vielleicht treten ja die weißen Tasten im Laufe der Reha wieder mehr in den Vordergrund.


 

 

05.11.2010

Die Fahrstuhltür geht auf und ein Mann steigt hinzu. „Sie sind der Hodentumor, richtig? Ich bin der mit der Prostata.“ „Mein Name ist Jan-Hinnerk, wie heißen Sie?“ ist meine verdutzte Antwort. Ich bin erschrocken, irgendwie wütend und verwirrt. Wieso bezeichnet mich der Mann, so um die 50 Jahre alt und mir nur flüchtig durch die gemeinsamen Mahlzeiten bekannt als Hodentumor und viel schlimmer, sich selbst als Prostata? Ich fühle mich sehr reduziert auf meine Krankheit. Allein die Formulierung: „Sie sind der Hodentumor“ macht mich wütend und lässt mich fragen, warum der Mann diese Formulierung Marke „Imbiss-deutsch“ wählt. Während ich so darüber nachdenke, fällt mir auf, dass mir diese Reduzierung auf die Krankheit hier in der Reha schon mehrmals begegnet ist. Die Wahl dieser Formulierung ist natürlich eine wunderbare Art sich selbst von seiner Krankheit abzugrenzen und auch das Schicksal von Anderen nicht an sich heranzulassen. Den eigenen Namen nicht mit -in seinem Fall Prostatakrebs- in Zusammenhang zu bringen, spielt vor, mit der Krankheit nicht in Berührung zu sein - nichts mit ihr zu tun zu haben. Ich lasse es nicht an mich heran. Ein gutes Schauspiel, aber ein verdammt trügerisches! Ich bin überzeugt, dass man eine derartige Prüfung nur wirklich überstehen kann, wenn man diese Krankheit als seine eigene anerkennt. Sie gehört zu mir und ist meine eigene Prüfung. Ich muss sie an mich und ja, auch in mich lassen, um sie als Ganzes bekämpfen zu können. Ich muss mich mit der Krankheit und der Bedeutung für mich auseinandersetzen und das funktioniert nur, wenn ich meine Person mit der Krankheit in Verbindung sehe. Erst dann kann ich diese Verbindung wirklich lösen und die Krankheit besiegen und dabei gleichzeitig daraus lernen mein Leben für mich positiver zu gestalten.

Ich bin Jan-Hinnerk und ich habe Krebs!


 

 

06.11.2010

Wieder Wochenende. Die Zeit vergeht hier schnell und ich frage mich wohin sie eigentlich so zügig hin ist oder besser, wie ich sie eigentlich gefüllt habe? Eigentlich habe ich gestern Bergfest gehabt, also die Hälfte der Rehamaßnahme hinter mir, wurde aber gestern vom Arzt gefragt, ob ich einer Verlängerung zustimmen würde. Ich weiß es noch nicht. Einerseits tut mir die Reha gut, andererseits fällt mir auch schnell die Decke auf den Kopf in der Freizeit. Die Möglichkeiten hier in der „Metropole“ Reinhardshausen sind ja eher eingeschränkt und auch das überwiegend ältere Klientel hilft nicht gerade bei der Freizeitgestaltung. Außerdem freue ich mich auf zuhause, vermisse meine Freunde und Familie, die bekannte Umgebung,... kurzum: Ich glaube, ich habe ein wenig Heimweh.


 

 

07.11.2010

Ein beklemmendes Gefühl der Angst hat sich heute beim Aufstehen in mir breit gemacht. Unvermittelt und für mich gerade sehr überraschend. Ich war nach meiner letzten Krebserkrankung überzeugt davon die Krankheit besiegt zu haben. Elf Jahre lang wägte ich mich in Sicherheit. Ich fühlte mich stark und fühlte mich als Sieger aus diesem Prozess hervorgegangen zu sein. Ich hatte es geschafft, ich war stärker als der Krebs.

Elf Jahre später holte er aber zum Gegenschlag aus. Er suchte mich wieder und traf mich. Er traf mich an meiner verwundbarsten Stelle, meinem Vertrauen. Mein Vertrauen war immer unerschütterlich, kein noch so großer Schicksalsschlag konnte dieses Vertrauen trüben. Keine noch so starke Gegenwehr konnte mich in die Knie zwingen. Ich hatte Kraft und vor allem unbändiges Vertrauen, dass es immer einen Weg gibt und ich die Prüfungen gut überstehe. Und dieses Vertrauen, dieses klare Wissen darum ist ein seinen Grundfesten erschüttert und ich suche danach. Ich suche das Vertrauen wieder und das fällt mir heute morgen schwer. Ich kenne das nicht mein Vertrauen suchen zu müssen, es war ja immer da. Aber ich vertraue darauf, mein Vertrauen in mich und meine Stärke wiederzufinden.


 

 

08.11.2010

Ich habe mich gestern und heute viel mit meiner Angst und meiner Unsicherheit auseinandergesetzt. Eigentlich ist es sogar ein positives Gefühl, je mehr ich darüber nachdenke. Ich glaube, es braucht eine starke Gegenkraft zu meinem Drang gerne und viel zu arbeiten und dabei mich selbst zu verlieren. Und diese starke Gegenkraft ist diese Angst oder das gebrochene Vertrauen darauf, die Krankheit für immer besiegt zu haben. Vor elf Jahren hatte ich diese Gewissheit, diese Klarheit und dieses volle Vertrauen darauf, als Sieger in dem Kampf gegen den Krebs hervorgegangen zu sein. Und ich tappte dabei in die Falle. Diese Sicherheit und dieses Vertrauen darauf ließ mich schnell in alte Bahnen geraten und mich durch mein manchmal übertriebenes Engagement für die Arbeit und für Andere mich selbst vergessen. Diese Angst oder diese Unsicherheit, ob die Krankheit mich auch ein drittes Mal heimsuchen könnte, kommt aus mir selbst heraus. Ich sehe sie als Selbstschutz meines Körpers. Denn diese Unsicherheit kann und soll mein Antrieb sein, mein Leben dieses Mal dauerhaft und wirklich umzustellen und wirklich aus meinen Fehlern oder besser Unachtsamkeiten mir selbst gegenüber zu lernen. Und darauf vertraue ich!


 

 

09.11.2010

Dienstag. Noch eine Woche und meine Rehamaßnahme in Bad Wildungen ist beendet. Ich möchte keine Verlängerung. Ich möchte wieder in meine Heimat. Wird es mir gelingen die guten Vorsätze und das was ich mir vorgenommen habe auch im Alltag umzusetzen? Einiges beginne ich bereits jetzt zu verändern oder neu zu gestalten, aber die eigentliche Bewährungsprobe wird der Alltag mit sich bringen. Dort wird es immer wieder Mut, Vertrauen, Kraft und Ausdauer brauchen, mir dass, was ich mir vorgenommen habe immer wieder vor Augen und ins Herz zu rufen. Ich weiß, der Alltag schleift die Zahnräder manchmal stumpf, aber umso mehr braucht es deshalb den Willen immer wieder die Zahnräder nachzuschärfen. Ich werde es vielleicht nicht immer alleine schaffen. Aber ich vertraue auf meine Freunde und meine Familie, dass sie mich bestärken und unterstützen auch beim Wiedereintauchen in den Alltag diese Probe zu bestehen.


 

 

10.11.2010

Beim Rausgehen schaue ich in den Spiegel, der bei mir im Zimmer hängt und mir wird bewusst, dass jeder Spiegel weder Freund noch Feind ist. Er beschönigt nichts und zeigt mir rigoros die Wahrheit. Ich sehe mich darin und wünsche mir für mein Innenleben würde es so eine Art Spiegel auch geben. Etwas, dass in mir ehrlich die Wahrheit sagt.

Ich schaue in den Spiegel und nehme seit langem wieder mich selbst wahr darin. 


Der, der mit Weisheit prahlt,

mit Leidenschaft die Realität genießt.

Lebensart ist Pflicht nicht Lust,

Charakter mehr Schein als Sein.

Erleidet stilvoll sein Stillleben,

erlebt mehr Todesstil als Lebensstil.

Angst und Prinzipien normiert,

Planung und Steuerung engt ein.

Vegetiert, promeniert am Leben vorbei,

egozentrisch sterben zum Lebensziel.


Der, der die Freiheit liebt,

freies Fluten des Lebens.

Kindlich genial, freudenberauscht,

farbenfroh und liebestoll.

Ausprobieren, Lust am sein,

genießen, aufatmen, glücklich sein.


 

 

11.11.2010

„Ich bin nicht dick. Ich habe nur Körpermumps!“ Ein umfangreicher Kerl mit schwarzen T-Shirt mit genau dieser Aufschrift sitzt wie immer um 17.00 Uhr im Aufenthaltsraum und studiert den Essensplan für morgen. Am Nebentisch sitzt wie immer ein Ehepaar. Die Frau plappert wie ein Wasserfall, der Mann reagiert mit Schweigen, was die Frau nur noch lauter plappern lässt. Heute geht es um die kaputten Knie des Mannes. Einen Tisch weiter sitzt Paula, eine etwa 45-jährige blonde, kleine Frau wie immer vor ihrem Laptop und spielt Solitäre.

Dann wäre da noch die Skatrunde, die wie immer die Karten auf den Tisch knallt, dass es durch den ganzen Aufenthaltsraum hallt und dabei immer lauter Zoten reißt.

Werner, Sebastian, Jörg und Heinz kommen wie immer kurz vor dem Abendessen aus der Kneipe um ein Vorabendbier zu trinken, um gleich nach dem Abendessen diese Kneipe erneut aufzusuchen, um das Nachabendbier zu sich zu nehmen.

Ach ja, und dann ist da Hugo. Hugo, so um die 60 Jahre alt geht den ganzen Tag von Tisch zu Tisch und Person zu Person und erzählt seine Lebensgeschichte. Dabei trägt er immer den gleichen zu eng geschnittenen oder zu heiß gewaschenen oder von Kalorien enger genähten grau melierten Jogginganzug und blaue Badelatschen sowie einem weißen Stirnband, dass die wenigen noch vorhandenen Haare am Ausfallen hindert. Um den Hals trägt er zusätzlich ein sportives wirkendes rosa Handtuch und will damit den Eindruck erwecken, er käme gerade vom Sport. Gesehen habe ich ihn da allerdings noch nie. Aber seine Lebensgeschichte habe ich in so ziemlich gleichlautendem Wortlaut dreimal gehört.

„Und täglich grüßt das Murmeltier“ geht es mir durch den Sinn. Jeder Tag um 17.00 Uhr spielt sich gleich ab. Ich beobachte die Menschen um mich herum. Es ist spannend. Mit manchen Menschen davon habe ich noch nie gesprochen, habe aber trotzdem den Eindruck schon einige ihrer Gewohnheiten zu kennen.

Wie man wohl mich einschätzen würde? Ob mich wohl auch jemand beobachtet im Laufe meiner Reha? Klar, auch ich habe Gewohnheiten. Manche Gewohnheiten davon sind gut, bei manchen ist Vorsicht angesagt.

Die Gefahr bei Gewohnheiten ist, Dinge zu tun, ohne sie zu überprüfen. So kam es, dass ich mit meiner Frau in den letzten Monaten zusammenlebte auch aus Macht der Gewohnheit und nicht aus Liebe. Es erschreckt mich selbst, als mir dies so bewusst wird. Nicht auf sich zu achten ist eine eine weitere meiner schlechtesten Angewohnheiten. Es ist Zeit meine Gewohnheiten zu überprüfen.


 

 

12.11.2010

88 Kilogramm! Ich freue mich darüber. Ich habe 4 Kilogramm zugenommen! Ich neige üblicherweise dazu untergewichtig zu sein. Ich merke, wie wichtig regelmäßiges Essen ist. In der Vergangenheit begann ich meinen Tag selten mit einem Frühstück. Ich trank einen Kaffee und dann ging das Tagesgeschäft los. Überhaupt aß ich sehr unregelmäßig. Hier während der Reha gibt es pünktlich die Mahlzeiten und pünktlich bekomme ich ein paar Minuten vorher schon Magenknurren. Ich habe mich darauf eingestellt. Aber ich weiß auch, hier spielt sich nicht das normale Leben ab, hier ist nicht der normale Alltag und hier bin ich nicht für die regelmäßigen Mahlzeiten verantwortlich. Ich setze mich einfach an den gedeckten Tisch und der gesamte Therapieplan ist um die Mahlzeiten herumgebaut. Nach der Reha bin ich selbst dafür verantwortlich regelmäßig und einigermaßen pünktlich meine Mahlzeiten zu mir zu nehmen. Ich bin mir bewusst, dass dies nicht einfach werden wird. Zu unregelmäßig arbeite ich, aber dennoch ist das regelmäßige Essen ein wichtiger Bestandteil für ein gesundes Leben. Ein neues Lernfeld, die der Krebs wie schon einige zuvor im Schlepptau hat.


 

 

13.11.2010

Die letzten Tage in Bad Wildungen liegen jetzt vor mir. Montag sind die letzten Anwendungen und Dienstag nach dem Frühstück werde ich abreisen. Ich bin natürlich noch lange nicht wirklich fit und werde auch noch weiter krank geschrieben sein. Nach meiner Reha muss ich zuhause ambulant weitere Anwendungen machen. Ich bin dankbar, dass ich in diesem Gesundheitssystem in Deutschland lebe. In meiner Arbeit habe ich viel mit Weißrussland zu tun. Würde ich dort leben, hätte ich zum Einem eine viel schlechtere medizinische Versorgung und könnte mir finanziell wohl kaum eine Krankheit leisten. Es gibt sicherlich auch Kritikpunkte an unserem Gesundheitssystem, aber dennoch fühle ich mich in meiner Situation aufgefangen. Gut, dass ich mir nicht auch darüber noch Sorgen machen muss und ich mich voll auf meine Genesung konzentrieren kann. 


 

 

14.11.2010

Noch zwei Nächte in der Rehaklinik. Ich freue mich sehr auf zuhause, meine Familie und meine Freunde aber ich bin auch ein wenig nervös. Ich bin gespannt, wie mir die Bewährungsprobe Alltag gelingen wird. Hier in Bad Wildungen lebt man wie in einem Kokon und ist abgeschirmt von jeglicher Form Alltag. Diesen Kokon verlasse ich nun bald und werde in die normale Welt entlassen. Es klingt ein wenig pathetisch, aber es ist ein Gefühl wie ein Schritt in ein neues Leben. Und ehrlicherweise bin ich ein wenig ängstlich davor. Ich habe ein wenig Angst davor nicht zu bestehen, an meinem Alltag zu scheitern und in alte Bahnen zu rutschen. Es wird sicherlich auch weiter eine große Kraftanstrengung für mich bedeuten.


 

 

15.11.2010

90% der Urologen sind -so kommt es mir zumindestens vor- Griechen. Bis auf Biene Maja stammen alle bisher mich behandelnden Urologen aus diesem Land. Ich frage mich, woran das liegen mag? 

Nachdem ich um 6.45 Uhr die letzte Wechseldusche über mich ergehen lassen habe, betrete ich den Raum des Arztes, der meine Abschlussuntersuchung durchführt. Nach den körperlichen Untersuchungen macht er mir deutlich, dass das Ende der Reha nicht bedeutet, dass ich arbeitsfähig entlassen werde. Die Reha hat gute Erfolge gebracht, aber ich bin weiterhin krank geschrieben und werde mit meinem Hausarzt das weitere Prozedere abstimmen. Der grobe Termin zum Wiedereinstieg ist im Januar. Im Laufe eines Jahres wird eine weitere Rehamaßnahme zur Stabilisierung stattfinden. Wann das genau sein wird, ist noch offen.

Ich freue mich auf zu Hause. Auch wenn ich hier die Möglichkeit hatte, durch die Situation hier vollkommen auf mich zurückgeworfen zu sein. Ich wurde zu Beginn gezwungen mich ganzheitlich auf mich zu konzentrieren. Ein neues Lernfeld, zum Teil ein hartes Lernfeld, aber ein im Ergebnis gutes Lernfeld. Wann hat man schon mal die Chance einige Wochen ganz mit sich selbst zu leben und in sich zu horchen. Im normalen Alltag leider oft schwer möglich. Und so genieße ich den letzten Tag mit den letzten Anwendungen hier in Bad Wildungen, bevor ich morgen nach Hause fahre. Den Schritt in ein neues Leben...


 

 

16.11.2010

Alles ruhig hier. Ich sitze wieder in meinem Wohnzimmer und lasse die Stille auf mich wirken. Ein eigenartiges Gefühl, wieder zuhause zu sein.

Die Stille legt sich wie eine Decke um mich und lässt mich äußerlich ruhig werden. Innerlich aber werde ich aber um so unruhiger.

Ich bin wieder komplett auf mich allein gestellt, ich bin selbst für mich verantwortlich, ich muss jetzt wieder für mich selbst sorgen. Genau zwei Monate geht meine Reise in meiner Selbst nun schon und ich bin müde von meinem Weg durch Höhen und Tiefen. Manche Dinge passierten dabei so schnell, dass ich so manches Mal Schwierigkeiten hatte, mit meinen Gedanken hinterherzukommen. Ein Leben wie ein Film ohne ein wirkliches Drehbuch aber einer enormen Dramaturgie. Ein Film ohne Regie aber dennoch nicht improvisiert. Jeder Tag eine neue Szene. Ohne Probe. Live und unzensiert.


 

 

17.11.2010

Ich habe gelernt mich durchzubeißen. Ich habe geschafft trotz Hauptschulempfehlung mein Fachabitur zu erreichen. Habe geschafft trotz Taucherangst schnorcheln zu gehen. Ich habe geschafft mein erstes Studium statt in drei Jahren wegen meiner Krebserkrankung vor elf Jahren in 2 1/2 Jahren zu absolvieren. Aber nie habe ich zuvor das Gefühl gehabt wie in meiner jetzigen Situation mir gehörig die Zähne auszubeißen. 

Steinhart hat sich der Krebs in meinen Lebensweg geworfen. Ich kann ihn nicht auf einmal beiseite räumen, sondern muss ihn Stück für Stück abtragen, ihn zermahlen zu Sand. Dieser Sand kann dann aber auf meinem weiteren Weg die Tragschicht bilden und sogar ebnen. Ich kann die Krankheit dazu nutzen zukünftige Unebenheiten in meinem Weg auszugleichen. Denn der Kampf gegen den Krebs bringt mich nicht nur an meine Grenzen, sondern er macht mich auch stark. Aber um diese Stärke zu erreichen braucht es eben die Kraftaufwendung mich zuvor durch diesen Stein zu beißen. 


 

 

18.11.2010

Es ist 8.00 Uhr und ich stehe auf. Dabei könnte ich ja eigentlich noch liegen bleiben. Kein Termin zerreißt heute meinen Tag, aber ich kann nicht mehr schlafen. Nach einem Frühstück (Achtung! Novum: dass nicht nur aus Kaffee besteht!) beginne ich meine Wohnung zu putzen.

Eigentlich ist es sauber hier, aber ich brauche das gerade. Es tut gut. Wenn man im Begriff ist innerlich aufzuräumen hilft mir es auch äußerlich Dinge neu zu ordnen und Sauberkeit zu schaffen. Und so ziehe ich mit Putzuntensilien bewaffnet von Raum zu Raum meiner Wohnung. Der Vorteil am praktischem Aufräumen ist, ich kann die Dinge wirklich in die Hand nehmen und ich weiß grundsätzlich einen sinnvollen Ablauf. Beim innerlichen Aufräumen ist das anders. Da weiß ich nicht immer genau, wie die Dinge zu handhaben sind. Da gibt es niemanden, der dazu eine Hilfestellung geben kann. Da hilft es in sich hineinzuhören. Der Körper und der Geist sagt mir, was ihm derzeit gut tut und welche Dinge aufzuräumen sind. Das gelingt aber nur, wenn es ich es schaffe genau hinzuhören. Das ist nicht immer einfach, denn manchmal laufe ich Gefahr, meine Gedanken und Gefühle falsch zu deuten. Aber je mehr Zeit ich mir zum Aufräumen lasse, umso mehr werde ich mir selbst gerecht. Umso besser kann ich die Dinge ordnen und umso besser auch langfristig das Chaos beseitigen. Aber es ist ein mühsamer Prozess. 


 

 

19.11.2010

Ich erinnere mich an meine Jugendzeit. Manches Mal hatte ich Schmerzen in den Beinen. Wachstumsschmerzen, die wohl jeder im Laufe seiner Jugendzeit dann und wann durchmachen muss. Aber dieser Schmerz war nur eine Folge des Wachstums. Und hier stelle ich Parallelen zu meiner jetzigen Situation fest. Der Krebs, der auch mit körperlichen und seelischen Schmerzen einhergeht, lässt mich wachsen. Ich wachse an der Krankheit und meinem Umgang damit. Ich kann es nicht ändern, dass die Krankheit über mich eingebrochen ist, aber wenn ich die Windrichtung nicht ändern kann, muss ich eben die Stellung des Segels verändern um weiter zu kommen. Manchmal hart am Wind oder über Umwege. Machmal muss ich wenden und kreuzen, aber immer mit einem Ziel vor Augen. Und immer mit dem Wissen, dass die Krisen oder schlechten Dinge die einem widerfahren eigentlich oft nur verkleidete Geschenke sind. Das Positive gibt sich nicht immer gleich auf Anhieb zu erkennen, aber im Kern ist es zu finden. Der Krebs ist kein Endstadium, sondern ein Durchgangsstadium. Ein Prozess, den ich noch nicht ganz überblicken kann. Ich weiß nicht wie lange diese Reise geht. Aber es ist ein Prozess, eine Reise, die mich verändert hat und auch weiterhin wird. Und ich bin überzeugt davon, dass sie mich zum Positiven verändern wird.


 

 

20.11.2010

Irgendwie steckt mir die Chemotherapie immer noch in den Knochen. Ich bin schnell müde und noch lange nicht so fit, wie ich es gerne hätte. Ich brauche immer noch ausgedehnte Erholungsphasen zwischendrin und heute nervt mich das. Ich habe manchmal dadurch wenig Lust mir etwas vorzunehmen, da es mich schnell ermüdet und muss aufpassen nicht in eine Art Lethargie zu verfallen. Ich habe Stimmungsschwankungen, die ja einerseits auch normal sind in so einer Situation, andererseits aber auch echt anstrengend sind. Ich kann mich selten auf irgendetwas wirklich einstellen und bin irgendwie ein Getriebener meiner Gefühlswelt. Ich hoffe und wünsche mir, dass ich auch diese Phase bald überwunden habe.


 

 

21.11.2010

Kinderlachen ist großartig! Ich bin heute schwimmen mit einem der Kids aus dem Kinderhaus in dem ich mit meiner Frau bis zu meinem Auszug lebte. Diese leichte, kindliche Fröhlichkeit steckt mich an. Ich genieße den Tag, ich genieße das Lachen und ich lasse mich mitnehmen in eine Sicht der Welt aus Kinderaugen. Unbeschwert, frei von Druck und purem Spaß am Sein. Ich möchte dieses Gefühl in mir bewahren. Es tut so gut...


 

 

22.11.2010

Entspring aus meiner Mitte, doch mein Weg trägt mich fort,

möchte zurück, doch plötzlich wird aus hier dort.

Das Wetter schlägt um nur für mich jedes Mal,

jeder Sonnenstrahl fällt in meine eigene Qual.


Die Welt ist so bunt, die Welt ist so grau.

Ich bin der Herr der Farbe aus rot mach ich blau.

Die Gedanken der Welt verein ich auf meine Person,

bevor andere sie denken verstehe ich schon.


Gebe im Spiel als Zeichen Herzkarte von mir,

warte auf Antwort doch keine Regung von Dir!

Jede Faser von mir ist umgeben von Tod,

der Teufel bist Du im flammenden Rot.


Umgeben von Glas - geschlossener Raum,

sehe und versteh alles, doch nur wie im Traum.

Gefühle gekappt, Gespür narkotisiert.

Das Leben prallt ab, Negative filtriert!


Denke vollkommen klar – verstehe die Welt,

keiner versteht mich – das Glas mich hält.

Ich entsinn mich zurück, spüre mich neu,

komme zurück in die Mitte bleibe mir treu.


 

 

23.11.2010

Mein rechtes Ohr pfeift. Penetrant übertönt es jedes andere Geräusch und durchdringt arrogant jede Wand. In jedes Telefonat, in jedes Gespräch, in jede Stille legt sich dieser Ton. Beim Hören von Musik bildet dieser Ton mit den Noten des Liedes eine Dissonanz, dass es einem graust. Eine Folge der Chemotherapie. Meine gesamte Blutlaufbahn ist in Mitleidenschaft gezogen und ich hoffe, dass sich das noch ein wenig regenerieren wird.

Heute Abend habe ich einen Termin bei meinem Hausarzt. Da werden wir besprechen, welche Anwendungen und Behandlungen für mich sinnvoll erscheinen. Die Zeit vergeht so schnell und ich habe manchmal Angst, dass sie sinnlos verstreicht. Carpe diem - nutze den Tag!


 

 

24.11.2010

Ich bin gerade überfordert. Ein Bekannter aus meinem Heimat-CVJM ist in jungen Jahren plötzlich an einem Herzinfarkt gestorben und hinterlässt kleine Kinder und Ehefrau. Nie wirklich krank sackt er vorgestern Abend zusammen und auch der Notarzt konnte trotz eineinhalbstündiger Reanimationsversuche ihn nicht mehr retten. Der Bekannte, der vor ein paar Wochen an Krebs starb, gab sich nach seinem Krebsbefund sehr schnell auf. Ich begann nach meinem Befund mich dem Krebs zu stellen und dieser Bekannte nun hatte gar keine Chance sich zu entscheiden. Bei ihm legte sich der Schalter um ohne Möglichkeit in irgendeiner Form darauf reagieren zu können. Das ist nicht fair! Warum habe ich die Chance noch einmal neu beginnen zu dürfen? Warum darf ich mein Leben neu gestalten und warum darf ich meinen Weg weitergehen? Warum er nicht? Ich verstehe es nicht...


 

 

25.11.2010

Der Kugelschreiber gleitet von seiner rechten Hand getragen über ein Blatt Papier. Ich sehe, wie schwungvoll blaue Tinte aufgetragen wird. Kurz darauf ist das Klicken eines Stempels zu hören, der unten rechts auf dem Papier neben der Unterschrift platziert wird. Vollkommen gerade besiegelt er die Bescheinigung die mir mein Hausarzt kurz daraufhin überreicht. „Voraussichtlich arbeitsunfähig bis zum 31.12.2010“ lese ich dort und der „nächste Termin zur Wiedervorstellung 04.01.2011“. Er legt seinen Kugelschreiber und seinen Stempel beiseite und schaut mir lange in die Augen. Mein Hausarzt und ich kennen uns schon seit dem ich ein Kind bin. Ich vertraue ihm. Aber bin auch überrascht, dass ich so lange noch krankgeschrieben bin. „Dein Körper, Deine Seele und Dein Geist haben die Hölle geschaut. Schenke Dir Ruhe! So schnell kann man sich davon nicht erholen!“ „Ich habe die Hölle geschaut“, wiederhole ich still in meinem Kopf. Ist diese Erfahrung die ich gemacht habe wirklich die Hölle schauen? Sicherlich war und ist es eine Grenzerfahrung. Diese Erfahrung zehrt an mir und lässt mich in der Tat noch nicht los. Auch heute noch fällt es mir schwer mich längere Zeit zu konzentrieren. Die Müdigkeit übermannt mich schnell und so manches Mal verliere ich mich in meinen Gedanken. Aber dennoch definiere ich es nicht als Schauen der Hölle...


 

 

26.11.2010

Den ganzen Tag wälze ich schon Papiere hin und her. Ein Antrag bei der Rentenkasse wegen Zahlung des Übergangsgeldes sowie bei der Krankenkasse wegen Zahlung des Krankengeldes müssen gestellt werden. Ein Papierkram der seines Gleichen sucht. Diverse Telefonate mit den Ämtern runden die Schreibarbeit ab. Mein Arbeitgeber unterstützt mich aber maßgeblich dabei und ich bin so dankbar dafür, dass ich damit nicht alleine dastehe. 

Nebenher denke ich viel an die Beerdigung morgen. Ich bin wirklich betroffen. Und irgendwie erdrückt mich die Situation. Vor ein paar Wochen starb ein Bekannter relativ jung an Krebs, nun ganz plötzlich ein anderer an einem Herzinfarkt. Dazu meine eigene Situation in der ich viel über Leben und Tod nachdenke und irgendwie ist das so geballt wie es mich 2010 beschäftigt gerade schwer zu ertragen. Es fällt mir schwer Worte zu finden, die ich den Angehörigen zukommen lassen könnte. Insgesamt fällt es mir gerade schwer Worte zu finden...


 

 

27.11.2010

„Ich habe gerade einen Urlaubskatalog geholt und wollte ihm einen Urlaub zum Geburtstag schenken...“ Am 31.12. hätte mein Bekannter Geburtstag gehabt und seine Frau war mit den ersten Vorbereitungen beschäftigt. Ich habe nach der Beerdigung lange mit ihr gesprochen und ich bin tief erschüttert. Während der Trauerfeier brachen auch bei mir alle Dämme und es war mir fast ein wenig peinlich. Aber es ließ sich nicht bremsen oder verstecken. Ich bin derzeit sehr sensibilisiert für dieses Thema und habe im Moment ein sehr dünnes Fell. Ich merke die Anspannungen der letzten Wochen. Aber es ist gut, dass  sich diese Anspannungen jetzt lösen. 


 

 

28.11.2010

Heute ist der 1. Advent. Ich schmücke meine Wohnung ein wenig adventlich und mache es mir gemütlich. Kerzenschein und der Duft nach Orangen und Glühwein legt sich in jeden Raum meiner Wohnung. Eine Krippe aus Birkenholz, ergänzt mit geschnitzten Holzfiguren, steht im Wohnzimmer. Diese habe ich von einem Freund aus Polen bekommen, der sie selbst hergestellt hat. Fällt mir die Ruhe sonst eher schwer in den letzten Wochen, genieße ich es jetzt gerade sogar. Draußen ist es bitterkalt und hier drinnen bei mir ist es wunderbar warm. Auch in mir macht sich diese wohlige Wärme breit. Während des Aufstellens der Krippe denke ich an meinem Freund in Polen und krame meine Fotokiste aus dem Regal und schaue alte Fotos an. Ich schaue zurück und erlebe beim Schauen der Fotos ein Gefühlsfeuerwerk, das so ziemlich alle Facetten der Gefühlswelt vereint. Dabei fallen mit auch Fotos in die Hände, die meinen vor ein paar Tagen verstorbenen Bekannten zeigen. Ich kenne ihn seitdem ich 13 Jahre alt bin und wir haben viele Dinge gemeinsam erlebt. Ich erinnere mich an die vielen guten gemeinsamen Momente und ich freue mich darüber. Es tut gut an die positiven Dinge zu denken. Es befreit und nimmt mir ein wenig der Trauer über sein Gehen. Die gemeinsam erlebten Momente bleiben. Die kann keiner nehmen. Ich trage sie mit mir. Ich trage sie bei mir. Ich trage sie in mir.


 

 

29.11.2010

Heute morgen bin ich aufgewacht und zum ersten Mal tun mir nicht mehr meine Arme weh nach den unzähligen Einstichen der letzten Wochen. Eine Wohltat! Ich kann sie frei bewegen und sie fühlen sich wieder an wie ein Stück von mir und nicht wie schmerzende Anhängsel. Meine Beine sind noch ein wenig schlapp und ich fühle manchmal ein dumpfes Ziehen, aber auch das wird langsam besser. Mir ist bewusst, dass das nie ganz weggehen wird, aber es ist zumindestens auszuhalten. 

Meine OP-Narben sind noch deutlich zu sehen und auch die werden immer bleiben. Das finde ich aber nicht schlimm. Narben erzählen auch immer ein Stück Lebensgeschichte. Und sie sind zugleich Mahnmal. Es wird und soll mich immer an meine Reise erinnern. Sie sollen mich daran erinnern, wie wichtig es ist sein eigenes Ich in Dreiklang mit Körper, Seele und Geist zu halten. Ich bin überzeugt, nur wenn es gelingt diese drei Dinge ausgewogen zu halten ist ein wirkliches gesundes Leben möglich.


 

 

30.11.2010

Leichte Schneeflocken tanzen vor meinem Fenster. Sachte schwebend, kristallin schimmernd sinken sie zu Boden und bleiben dort liegen. 70 Tage geht meine Reise jetzt schon. Und jeder Tag ist, wie eine dieser Schneeflocken. Sie sinken vorbei, bleiben aber in mir liegen. Sie prägen mich. Jede Flocke ist unterschiedlich und facettenreich, jeder Tag war und ist anders. Manchmal schweben sie sachte, manchmal ist es wie ein Hagelkorn der sich in mich wirft, aber immer ist es ein Teil meiner Reise.

Ich trage jede dieser einzelnen Flocken weiter in mir. Ich nehme sie in mir auf, ich bin erfüllt davon und es ist scheinbar so, als wenn sich jedes einzelne Kristall der Flocken mit meinen Zellen verbindet. Ein Schneemann der auf Reisen geht... Ein komisches Bild.


 

 

01.12.2010

Mit spitzen Fingern öffne ich meinen Adventskalender und als ich das erste Türchen endlich aufbekomme leuchtet mir im zarten Schokobraun eine Glocke entgegen. Ich denke irgendwie an einen Wecker und zeitgleich mit diesem Gedanken drängt sich in mir die Frage auf, ob die Reise in meiner Selbst hier langsam zu Ende geht. Jede Reise findet irgendwann ihr Ende. Ich habe das Gefühl, dass ich mich vor 71 Tagen auf den Weg machte um mich selbst neu zu finden und ich habe das, was ich gesucht habe, gefunden. Ich habe mich selbst wiedergefunden. Ich bin in mir angekommen. Ich bin gut mit mir.

Meine Reise war eine Grenzerfahrung für mich. Meine Reise hat vieles in meinem Leben gehörig auf den Kopf gestellt. Meine Reise beinhaltete ein Auf und Ab der Gefühle, wie ich es vorher noch nicht kannte. Meine Reise ließ mich erfahren meine positive Grundeinstellung, meine kindliche Fröhlichkeit und meinen Humor zu bewahren. Meine Reise zeigte mir ein deutliches Stoppzeichen um meine Lebensgestaltung für Körper, Seele und Geist gesünder zu handhaben. Meine Reise lehrte mich auch Stille und Ruhe in meinem Leben zuzulassen und es als Ort der Erquickung zu nehmen. Meine Reise hat mich wieder neu in meinem Glauben bestärkt. Meine Reise machte deutlich, dass Angst auch manchmal ein positives Gefühl des Selbstschutzes sein kann. Meine Reise machte mir erneut meine Stärken bewusst auf die ich mich verlassen kann. Meine Reise war schmerzhaft. Aber meine Reise war auch sehr heilend.

Ich habe auf meinem Weg auf harter aber dadurch auch einträglicher Weise gelernt meine Sichtweisen mir selbst gegenüber zu überdenken. Ich habe gelernt, dass machmal Warten auch ein Geschenk sein kann. Ich habe gelernt, wie wichtig es, sich dem jeweiligen Moment hinzugeben und dabei vertrauensvoll nach vorne und in sich selbst zu schauen. Der Weg hat meinen inneren Kompass neu geeicht ohne aber mich bei alledem selbst zu verraten. Ich bin ich selbst geblieben und habe dabei die Krankheit als meine Reise, als meinen Weg den ich zu gehen habe, anerkannt.

Auf dieser Reise begegneten mir dabei viele Menschen und jeder einzelne von ihnen prägte mein Sein und gab mir ein neues Profil. Biene Maja mit seinem gesamten Ältestenrat begleiteten mich und ich fühlte mich bei ihnen in guten Händen. 

Meine Familie, viele Freunde und Bekannte unterstützten mich auf dem zum Teil wirklich harten Weg. Sie haben mich in der Phase, wo ich am Schwächsten war und alleine nicht weiter konnte, getragen. Sie trockneten meine Tränen und freuten sich mit mir über jeden Fortschritt. Sie nahmen mich bei der Hand wenn ich nicht weiter wusste, sie umarmten mich, wenn ich Nähe brauchte. Allein diese Erfahrung war ein Geschenk auf meiner Reise. Es rührt mich zu Tränen geliebt zu sein und ich bin so unsagbar dankbar für diese Menschen, die mich meine Reise nicht alleine gehen und mich nicht fallen ließen.

Ich weiß, dass auch in der Zukunft die Krankheit immer wieder in meinem Leben eine Rolle spielen wird. Die Psychotherapie die vor mir liegt und die zehn Jahre andauernde Nachsorge gehören jetzt zu meinem Leben dazu. Aber die Erfahrung der hinter mir liegenden Reise lässt mich ruhig und positiv nach vorne schauen in dem Wissen, dass mich auf meinem Weg, wo auch immer er mich hinführen mag, liebe Menschen begleiten, die es gut mit mir meinen. Und auch wenn es irgendwann vollkommen ausweglos erscheint: Es gibt immer einen Weg!

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